Ueber den Himmel hinaus - Roman
richtiggehend Angst eingejagt. Sie war nicht von seiner Seite gewichen, in der Hoffnung, die Laute, die er von sich gab, würden irgendwann verständlicher werden. Eine Krankenschwester hatte sie gewarnt, die Wache am Bett eines Komapatienten sei kein Sprint, sondern ein Marathon. Doch Sofi hatte nicht auf sie gehört, hatte drei volle Tage nicht geschlafen. Am dritten Tag hatte Julien die Krankenschwestern gebeten, etwas zu unternehmen. Man hatte sie praktisch gezwungen, zwei Schlaftabletten zu schlucken, und dann war sie auf dem Stuhl neben Nikitas Bett in einen sechsstündigen traumlosen Schlaf gesunken.
Das hatte sie gelehrt, sich ihre Kräfte besser einzuteilen.
Sie dachte daran, wie rasch die ersten sechzehn Wochen nach Nikitas Geburt verflogen waren. Die sechzehn Wochen seit dem Unfall dagegen waren unendlich langsam dahingeschlichen. Tag um Tag, Woche um Woche war verstrichen. Keine Besserung. Ärzte und Pfleger versuchten, sie zu trösten, warfen mit Begriffen wie vestibulookulärer Reflex und Sensibilitätsprüfung um sich, während sie Nikita eiskaltes Wasser in die Ohren spritzten oder ihn mit Nadeln malträtierten. Die Prognose lautete, es bestehe eine überdurchschnittlich hohe Wahrscheinlichkeit, dass er eines Tages wieder zu sich kommen würde. Aber Sofi konnte nicht vergessen, was eine Krankenschwester in der ersten Woche gesagt hatte: »Je länger ein Patient im Koma liegt, desto unwahrscheinlicher ist seine Genesung.«
Sechzehn Wochen. Und jetzt die Überstellung in ein Pflegeheim. Glich das nicht einem stillschweigenden Eingeständnis, dass sich nichts mehr ändern würde? Nie wieder?
Sofi beugte sich seufzend nach vorn, um erneut Nikitas Hand zu streicheln. Sie wusste noch immer nicht, gegen wen sie den größten Groll hegte. Gegen Lena, die betrunken gewesen war und nicht ordentlich auf ihr Kind achtgegeben hatte? Oder gegen Julien, der Lena überredet hatte, Nikita mitzunehmen? Oder gegen Natalja, die nicht interveniert hatte? Natürlich hatte Julien protestiert - ihm sei nicht klar gewesen, dass Lena getrunken hatte. Und auch Natalja hatte sich schnell von jeder Schuld freigesprochen. Sie sei oben gewesen und hätte nicht gemerkt, was unten vor sich ging. Nur Lena hatte unter Tränen um Vergebung gebettelt, immer und immer wieder, bis Sofi, die sich weigerte, mit ihr zu reden, Julien angeschrien hatte, er solle ihr Lena vom Hals schaffen.
»Schaff sie mir aus den Augen«, hatte Sofi gebrüllt. »Ich
ertrage es nicht! Sie sollte es sein, die halb tot im Krankenhaus liegt!«
Die meisten Vorwürfe aber machte Sofi sich selbst. Normalerweise arbeitete sie in der letzten Dezemberwoche nie; die Werkstatt war geschlossen. Doch dann war der panische Anruf von Francette gekommen - eine Spezialanfertigung war verloren gegangen. Also war sie losgezogen, um das gute Stück zu suchen und für die Versendung vorzubereiten, und im Zuge dessen war ihr eine Idee gekommen, die sie sogleich festhalten musste. Darüber hatte sie alles andere vergessen.
Es war schon dunkel gewesen, als draußen jemand ihren Namen rief; sie hatte die Werkstatt abgeschlossen, damit niemand hereinkommen konnte. Bis sie an der Unfallstelle eingetroffen war, hatte man Nikita bereits in den Krankenwagen geschoben.
»Sie sind Nikitas Mutter?«
Sofi fuhr herum und erblickte eine große, hagere Frau Mitte Fünfzig. Sie hatte harte Gesichtszüge und trug einen weißen Kittel.
»Sofi Tschernowa«, stellte sich Sofi vor.
»Ich bin Dr. Pelletier, die für Nikita zuständige Ärztin.«
Sofi war zu müde, um sich zu erheben und ihr die Hand zu schütteln. Sie hatte so viele Ärzte und Schwestern kennengelernt, dass sie sie kaum noch auseinanderhalten konnte. Dr. Pelletier zog einen Stuhl heran und setzte sich.
»Ich könnte mir vorstellen, dass Sie sich hilflos fühlen und glauben, Sie könnten nichts tun.«
»So ist es.«
»Nun, es gibt durchaus etwas, das Sie tun können; etwas, das wir hier alle tun: Wir sprechen, wenn wir in Hörweite der Patienten sind, von ihrer Genesung, sooft es geht.
Wir vermeiden negative Bemerkungen und düstere Prophezeiungen. Ich glaube fest daran, dass Nikita wieder zu sich kommen wird. Das ist von nun an alles, was wir sagen. Haben Sie verstanden?«
Sofi nickte.
»Statt stumm an seinem Bett zu sitzen und zu weinen, sollten Sie mit ihm sprechen, ihm erzählen, was Sie mit ihm unternehmen werden, sobald es ihm besser geht.«
Sofi war skeptisch. Schon vor dem Unfall war Nikita nicht in der Lage
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