Ueber den Himmel hinaus - Roman
Mama kommt gleich. Wach auf.«
Doch sein Arm hing schlaff herab wie bei einer Stoffpuppe. Sie blickte auf ihre Hände, die voller Blut waren.
Sie war noch immer nicht aufgewacht. Der Albtraum dauerte an.
Teil Fünf
KAPITEL 45
Roy Creedy war unglücklich.
Aber was war schon Glück? Die Welt stand Kopf, alles war bedeutungslos geworden vor dem Hintergrund dessen, was er heute erfahren hatte. Das Einzige, was ihn davon abhielt, wahnsinnig zu werden, war seine Suche. Also stellte er Denken und Fühlen ein und konzentrierte sich darauf. Er blätterte Bücher durch, leerte Schuhkartons und zerpflückte Ordner um Ordner in seinem Aktenschrank. Er musste den Brief finden.
Im Schlafzimmer übermannte ihn die Verzweiflung. Er würde nicht weinen; nicht, solange er noch einen Funken Selbstachtung verspürte.
Krebs. Als ihm der Arzt die Diagnose mitgeteilt hatte, mit tiefer, ernster Stimme, wie ein Filmschauspieler, war es Roy Creedy so vorgekommen, als würde in seinem Inneren plötzlich ein Loch klaffen, durch das sein Herz auf den Boden gefallen war. Es folgten Tausende Fragen und Antworten - Behandlungsmöglichkeiten, Heilungschancen. Im schlimmsten Fall würde er das Ende des Jahres nicht mehr erleben. Und dann hatte ihm der Arzt folgenden Rat erteilt: »Bringen Sie Ihre Angelegenheiten in Ordnung, aber lassen Sie sich nicht von negativen Gedanken übermannen.«
Damals hatte er nur den ersten Teil des Satzes wahrgenommen. Bringen Sie Ihre Angelegenheiten in Ordnung. Und anstatt sein Testament zu verfassen und für seine undankbaren Neffen und Nichten Treuhandfonds einzurichten, hatte er an die drei russischen Biester gedacht, die ungeschoren davongekommen waren.
Und so hatte er sich auf die Suche nach dem Brief gemacht,
den die eine Schwester geschrieben hatte; eine naive Entschuldigung, die seinen Hass nur noch geschürt hatte. Er musste ihn finden. Vielleicht enthielt er einen Hinweis auf ihren Aufenthaltsort. Er würde Jagd auf sie machen. Sie sollten dieselbe Todesangst verspüren wie er jetzt.
Er sank in sich zusammen. Er hatte den Brief verbrannt, er wusste es. Er hatte alle ihre Briefe verbrannt. Sie waren ein Beweis seiner Leichtgläubigkeit gewesen und hatten vernichtet werden müssen. Aus demselben Grund hatte er bislang nie versucht, die drei ausfindig zu machen: Damit niemand erfuhr, was für ein Idiot er gewesen war. Die Angelegenheit war ihm unsäglich peinlich gewesen. Genauso peinlich wie die zahllosen Untersuchungen - wozu mussten sie ihm Schläuche in den Hintern schieben? - und die Beschreibungen der Operationen, die ihn möglicherweise retten könnten. »Lieber sterbe ich!«, hatte er schreien wollen. Jetzt war er sich da nicht mehr so sicher.
Plötzlich fiel ihm der zweite Rat des Arztes ein. Lassen Sie sich nicht von negativen Gedanken übermannen. Was sollte er also tun? Sich an seinen Hass, an Rachefantasien klammern? Oder doch an das Leben?
Roy Creedy ließ den Kopf hängen, barg beschämt das Gesicht in den Händen und weinte sich die Augen aus.
Sofi ließ den sonnigen Parkplatz hinter sich und betrat das ruhige, helle Gebäude des Sanatoriums St. Colette in Loudun, das mit seinen Linoleumböden, den bunten Vorhängen und den breiten Betten erstaunlich behaglich wirkte. Sie war froh, dass Nikita nun hier untergebracht war und nicht mehr in der albtraumhaft sterilen Intensivstation oder der neurologischen Abteilung des Krankenhauses in Tours.
Und doch erfüllte sie der Gedanke auch mit tiefer Trauer. Nikitas Umzug in dieses Heim bedeutete, dass es ihm noch immer nicht besser ging. Er würde nicht sterben, aber man konnte nicht mehr allzu viel für ihn tun, außer hoffen, dass er irgendwann das Bewusstsein wiedererlangen würde.
Sofi wurde in ein butterblumengelb gestrichenes Zimmer mit Zeichentrickfröschen auf Vorhängen und Bettdecken geführt. Dort lag Nikita, unerträglich schmal und reglos, als würde er schlafen. Als wären da nicht all diese Bildschirme, all die Schläuche.
»Hallo, mein Schatz.« Sofi schob einen Stuhl ans Bett und berührte seine Hand. Er zuckte und ächzte leise, die Augäpfel bewegten sich unter den Lidern, was eine Reaktion auf Sofis Berührung gewesen sein konnte oder auch nur Zufall. In den vergangenen sechzehn Wochen hatte Sofi eine Menge gelernt; unter anderem, dass ein Patient im Koma nicht zwangsläufig ruhig war. Im Gegensatz zu Papa, der damals völlig reglos dagelegen hatte, hatte ihr Nikita mit seinem Murmeln und Stöhnen anfangs
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