Ueber den Himmel hinaus - Roman
hätte zu Hause bleiben sollen.« Ihr Magen zog sich zusammen. »Lena hätte ihn nicht mitnehmen dürfen.«
»Das wirst du ihr nie verzeihen, nicht wahr?«
»Nein, niemals.«
In diesem Augenblick betrat eine Pflegerin, die Sofi noch nie gesehen hatte, die Teeküche. »Entschuldigen Sie, sind Sie die Eltern von Nikita Blanchard?«
»Ja.« Sofi umklammerte ihren Styroporbecher so fest,
dass ihr der heiße Kaffee über die Finger lief. »Was ist passiert?«
»Eine meiner Kolleginnen wollte sein Bett machen, und er hat ihre Hand weggeschoben.«
Es dauerte einen Moment, bis Sofi begriff, dass das keine schlechte Nachricht war, ganz im Gegenteil.
»Kommen Sie«, sagte die Pflegerin. »Dr. Pelletier ist jetzt bei ihm.«
Vor Sofis Augen flimmerte alles. Auf dem Weg zu Nikitas Zimmer wäre sie beinahe gestolpert. Zwei Ärztinnen und drei Schwestern standen an seinem Bett. Sofi hätte sie am liebsten verscheucht und die Arme um Nikita geschlungen, um zu sehen, ob er ihre Umarmung erwiderte. Allerdings hatte er das schon vor dem Unfall nur höchst selten getan.
Sie hielt sich im Hintergrund, lauschte dem französischen Stimmengewirr. Sie registrierte erst, dass Julien ihre Hand gehalten hatte, als er sie losließ, um an seinem Daumennagel zu kauen.
Dr. Pelletier drehte sich zu ihnen um. »Ah, Sofi. Tolle Neuigkeiten.«
»Hat er es noch einmal getan?«
»Leider nicht, aber das hat nicht viel zu bedeuten. Das Einzige, was zählt, ist, dass er bewusst reagiert hat.«
Die Ärztin befahl, man solle sie mit den Eltern allein lassen, und lehnte sich an den Bettrand. »Kein Patient wacht von heute auf morgen aus dem Koma auf«, erklärte sie. »Man könnte den Prozess mit dem Schlüpfen eines Kükens vergleichen. Was wir heute gesehen haben, ist der erste Schritt.«
Sofi musste sehr an sich halten, um nicht vor Freude in Tränen auszubrechen. »Dann wird er also wieder gesund?«
»Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen, aber die Prognose hat sich soeben drastisch verbessert.« Dr. Pelletier tätschelte durch die Bettdecke hindurch Nikitas Knie. »Er macht sich prächtig. Nur Mut.«
Sofi ermahnte sich selbst, nicht allzu überschwänglich zu sein, aber ihr war plötzlich unbeschreiblich leicht ums Herz. Der Sommer hatte begonnen. Der Sommer der Genesung.
KAPITEL 47
Viktor musste jede Spur von ihr auslöschen. Verräterin. Hure. Lügnerin. Vor zwei Tagen hatte ihn Uljana verlassen. Wegen eines anderen Mannes. Von wegen Mann. Diesen Fettklops, mit dem sie sich davongemacht hatte, konnte man wohl kaum als Mann bezeichnen. Ein Eunuch, der sich von ihr herumkommandieren ließ. Das war wohl letztendlich das Problem gewesen - Viktor war eben noch ein richtiger Mann. Er pumpte die Brust auf, während er ihre Toilettensachen von den Badezimmerregalen in einen schwarzen Müllbeutel fegte. Zwei Tage lang hatte er im Bett gelegen und vergeblich versucht, sich und seinen Kummer im Alkohol zu ertränken. Er war noch am Leben. Also musste er stattdessen sie auslöschen.
Er ging ins Schlafzimmer. Sie hatte in weiser Voraussicht nur rasch das Nötigste zusammengepackt. Den Rest hole ich, wenn du dich etwas abreagiert hast , stand auf dem Zettel, den sie ihm hinterlassen hatte. Ich melde mich.
Ha! Es würde nichts mehr zu holen geben. Er zerrte Schals und Socken und mottenzerfressene Mäntel aus dem
Schrank. Der Anblick eines Ärmels, der schlaff und verloren aus dem wachsenden Haufen auf dem Boden heraushing, raubte ihm schier den Atem.
»Uljana«, murmelte er verzweifelt. Er hatte sie geliebt, mit jeder Faser seines Herzens. Ohne sie war er ein Nichts. »Miststück!« Er stampfte auf dem Ärmel herum und ging dann fluchend ins Wohnzimmer, wo er auf ihren neuesten Stapel Zeitschriften stieß. Die würden ein hübsches Feuer abgeben. Er nahm den ganzen Haufen und machte sich auf den Weg zum Abfallverbrenner.
Dann sah er Natalja, in einer russischen Illustrierten.
Er legte die anderen ab, nahm neugierig das Heft zur Hand. Sie hatte einen russischen Film gedreht, der für einen Preis nominiert war. Viktor dachte an den Mann, der nach seinen Töchtern gefragt hatte. Seit er vor ein paar Monaten seine erste Rate erhalten hatte, war er nervlich angespannt gewesen, hatte mit Konsequenzen gerechnet. Nichts geschah. Er hatte sich mit dem Geld ein Auto gekauft, das er eines Abends auf dem Heimweg betrunken gegen einen Baum gefahren hatte. Er hatte es in seiner Arroganz nicht versichern lassen. Ihm war nichts passiert, im Gegensatz zu
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