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Über den Wassern

Über den Wassern

Titel: Über den Wassern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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sehr, sehr alt. Es gab bei ihnen Dichter und Philosophen, und große Künstler. Homer war ein Grieche.«
    »Homer?«
    »Er schrieb die Odyssee und die Iliade.«
    »Verzeih, aber ich weiß nicht...«
    »Das sind berühmte Versepen, sehr lange. Eines war über einen Krieg, das andere über eine Seefahrt. Mein Vater hat mir oft Geschichten erzählt, die aus ihnen stammten, die paar Teilstückchen, an die er sich noch aus den Erzählungen seines Vaters erinnerte. Und der hatte sie von seinem Großvater Harry gelernt, dessen Großvater noch auf der ERDE geboren war. Damals war es erst sieben Generationen her, daß es die ERDE noch gab. Wir vergessen das manchmal... manchmal vergessen wir sogar, daß es die ERDE überhaupt jemals gab. Siehst du das runde braune Medaillon da? Das ist eine Erdkarte. Mit den Festlanden und den Meeren.«
    Von all seinen Schätzen, dachte Lawler oftmals, war dies der kostbarste. Es war zwar weder das älteste Stück seiner Sammlung, noch das schönste, aber es trug eben das Abbild der ERDE in sich eingegraben. Er hatte keine Ahnung, wer es gemacht hatte, oder wann es gemacht worden war, oder zu welchem Zweck. Es war eine flache harte Scheibe und größer als seine Geldmünze aus dem Land ‚United States of America’, aber doch noch so klein, daß er sie in der Handfläche halten konnte. Am Rand verliefen Lettern, die keiner zu entziffern vermochte, und in der Mitte lagen zwei sich überschneidende Kreise, auf denen die Karte der ERDE eingraviert war, zwei Kontinente in der einen Hemisphäre, zwei in der anderen, und am unteren Rand der Welt in beiden Kreisen lag ein fünfter Kontinent, und einige große Inseln ragten aus den Weiten der Meere. Vielleicht waren ja auch sie Kontinente, wenigstens ein paar davon. Denn Lawler begriff nicht so recht, wo der Unterschied lag, wenn es eine Insel war und wenn es ein Kontinent war.
    Er zeigte auf den linken Kreis. »Man nimmt an, daß Ägypten hier war, etwa hier in der Mitte. Und Griechenland irgendwo ein bißchen weiter hier oben. Und das da drüben, auf der anderen Seite könnten vielleicht die United States of America gewesen sein. Und dieses kleine Stück Metall nennt man eine Münze, und sie benutzten es dort, in diesen United States.«
    »Wofür?«
    »Als Geld«, sagte Lawler. »Solche Münzen waren Geld.«
    »Und das verrostete Ding da?«
    »Das war eine Waffe. Man nannte es Kanone. Es spuckte kleine Bolzen aus, die Geschosse hießen.«
    Sie schauderte ein wenig zurück. »Du hast da nur diese sechs Gegenstände von der ERDE... und einer davon muß ausgerechnet eine Waffe sein. Aber so waren sie, die damals, nicht wahr? Dauernd kämpften sie gegeneinander? Brachten sich gegenseitig um? Taten sich gegenseitig weh?«
    »Ja, manche waren so, besonders in den älteren Tagen. Später hat sich das geändert, glaube ich.« Lawler zeigte auf den groben Steinsplitter, sein letztes Exponat. »Das kommt von irgendso einer Mauer, die sie damals hatten, einer Mauer zwischen Ländern, weil es da Krieg gab. Das wäre, wie wenn es hier bei uns Mauern zwischen den Inseln geben würde, falls du dir so was vorstellen kannst. Irgendwann kam dann ein Frieden, und sie rissen die Mauer ein, und alle feierten heftig, und Stücke von der Mauer wurden aufbewahrt, damit keiner jemals vergessen sollte, daß es die Mauer einmal gab.« Lawler zuckte die Achseln. »So waren eben Menschen. Manche waren gut, und andere eben nicht. Ich denke nicht, daß sie so sehr anders waren als wir.«
    »Aber ihre Welt war anders.«
    »Sehr anders, ja. Seltsam und wunderbar.«
    »Du kriegst immer so einen ganz besondren Ausdruck in den Augen, wenn du über die ERDE redest. Das hab ich schon neulich nachts bemerkt, drunten an der Bucht, als du davon gesprochen hast, daß wir alle im Exil leben. Da war so ein Glühen in deinen Augen, ein Ausdruck der Sehnsucht, nehme ich an. Du hast gesagt, manche Leute glaubten, die ERDE war ein wundervoller Paradiesgarten, und andere, sie war ein entsetzliches Jammertal voller Grauen, und alle wollten weg von dort. Aber du mußt einer von denen sein, die glauben, sie war ein Paradiesgarten.«
    »Nein«, antwortete Lawler. »Ich hab es dir doch gesagt: Ich weiß wirklich nicht, wie es dort wirklich war. Ich vermute, ziemlich übervölkert, eng, schäbig und verdreckt, als es aufs Ende zuging, sonst wäre es wohl kaum zu diesen gigantischen Auswanderungswellen von dort gekommen. Aber ich weiß es nicht. Ich nehme an, die Wahrheit darüber werden wir nie

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