Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
zum Dogma geworden sei. Er hingegen glaubt an Hölderlin, weil dieser und damit dieser gebraucht werde. Gegen den Widerstand KD Wolffs brachte Sattler bei Luchterhand das Schnäppchen heraus, auf das der Romanschreiber am 8. Juni 2006 zufällig stößt. In den Feuilletons fand diese Leseausgabe wenig Beachtung, dabei ist sie, so scheint es in dem Roman, den ich schreibe, das eigentliche Ziel der Edition, die große Frankfurter Ausgabe in dieser Hinsicht nur ein Weg. Nicht Sattler, sondern seine lobenden oder hämischen Kritiker tun so, als seien die verwirrenden Schrifttypen und Siglen Selbstzweck. Sattler selbst zerlegt die Manuskripte nicht deswegen in ihre Einzelteile, damit sie unlesbar werden. Sie sollen sich für den Leser angemessener, wahrer in ihrer Brüchigkeit zusammenfügen.
In dem Roman, den ich schreibe, beginnt der Romanschreiber, weil die finanziellen Schwierigkeiten zunehmen, im Laufe des Jahres 2007 aus seinem Abfallhaufen copy & paste einzelne Absätze zu nehmen, die in sich relativ homogen sind, sie geringfügig zu bearbeiten und an diesen und jenen Redakteur zu schicken. Es sind Alltagsszenen, Reisebeschreibungen, spontane Kommentare politischen Geschehens, Reflexionen über Filme, Gemälde, Bücher, also durchweg Texte, die nicht zu dem Roman im Roman gehören, der allmählich Kontur annimmt, sondern zu den Notizen, die er sich ringsherum wahllos macht. Zu seiner Überraschung werden sie als Feuilletons oder Kolumnen gern genommen, so daß eine gewisse Nachfrage entsteht. Nun bringt ihm das, was er ohne Absicht verfaßt und auch sprachlich den Gestus des Niederen, des Alltäglichen, des Hinweggesprochenen hat, nicht nur Geld ein – immer häufiger schreibt er Absätze in seinen Roman, die sich nicht zufällig zur Veröffentlichung eignen, sondern umgekehrt durch Redakteure angeregt oder direkt in Auftrag gegeben worden sind. Sozusagen wird der Romanschreiber zum professionellen Abfallerzeuger. Das geht soweit, daß er zwischenzeitlich der Hybris verfällt, er könne, ja müsse das, was so roh als unmittelbarer Ausdruck innerer Regungen entstand, häufig auch im Rausch, in Zuständen übergroßer Müdigkeit oder Eile, als Ganzes veröffentlichen. Er glaubt tatsächlich eine Zeitlang, daß die Wirkung der Bruchstücke, die ihm den Reaktionen der Redakteure nach objektiv vorzuliegen scheint, sich potenzieren würde, wenn die Stücke in dem unbeabsichtigten Zusammenhang zu sehen wären, den das Leben darstellt. Das ist ein Trugschluß, wie er längst weiß, ohne freilich zu wissen, welchem Trugschluß er damit wieder unterliegt. »Einfach etwas entstehen zu lassen, darum kann es sich ja eigentlich nicht handeln«, sagte Joseph Beuys in einem Gespräch: »Denn daß Menschen etwas aus sich heraussetzen, dieser Vorgang muß ja angeschaut werden, so daß ich sage: Gut, es ist etwas aus mir herausgekommen, aber hat es nun auch schon Qualität? Jetzt fängt dann natürlich an, daß ich nicht sagen kann, Kunst ist einfach ein Prozeß, der kommt irgendwie heraus, ist also, ich will einmal sagen etwas Erbrochenes.« 4
Das Schnäppchen besteht, unter Verzicht auf Faksimiles und Transkriptionen, ausschließlich aus dem edierten Text sowie sämtlichen verfügbaren biographischen Dokumenten, und zwar in strenger Chronologie. Die willkürliche, weil menschliche Sortierung nach Gattungen ist aufgehoben, das ordnende Prinzip nur mehr die Zeit. Das Ergebnis ist verblüffend: Mit den Dokumenten und Briefen, die Sattler in der Leseausgabe in die Dichtungen einwebt, statt sie wie in der großen, der Frankfurter Ausgabe gesondert beizugeben, wird nicht Hölderlins Leben , wie es Biographien gern hätten, sondern wird sein Werk als Roman lesbar, obschon alles andere als einem traditionellen. Die Geduld, die einem der Ulysses abverlangt, ist bei Hölderlin schon nach dem ersten Band aufgebraucht. Besonders die Aufzählungen, Urkunden und Listen fesseln mich, weil sie mit wenigen Buchstaben ganze Existenzen anzeigen, Geburtsfreude und Trauer, Versagensängste und Zukunftspläne, weil die Buchstaben einmal so viel und zweihundert Jahre später nichts, absolut nichts mehr bedeuten, etwa die Liste der Schüler, die am 20. Oktober 1784 in der niederen Klosterschule Denkendorf in die Promotion eintraten. Sie sind nur noch Namen. Sie haben immer noch einen Namen.
1. Frid. Henr: Wolfgang Moegling, natus Stuttgardiae d. 28. Aug. 1771. Patre quandam Secretario Consistorii.
2. Joann. Christian Benjamin Rümmelin, (antehac
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