Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
Vom Netzwerk:
Prophet sagt, oder:
     
    Wir trennen uns nur, um inniger einig zu seyn, götterfriedlich mit allem, mit uns. Wir sterben, um zu leben. 22
     
    Wie in allen mystischen Traditionen liegt die angestrebte Versenkung jenseits der Sprache, ist die Einswerdung nicht denk-, sondern nur erlebbar:
     
    Was ist die Weisheit eines Buchs gegen die Weisheit eines Engels? 23
     
    Und in allen mystischen Traditionen wird der Zustand mit ähnlichen Bildern umschrieben, während dem der »Verlierende«, fâqid , wie die islamischen Mystiker den Erlebenden nannten, im Verlust des Eigenen zum »Findenden« wird, zum wâdjid :
     
    Es giebt ein Vergessen alles Daseyns, ein Verstummen unseres Wesens, wo uns ist, als hätten wir alles gefunden. 24
     
    Nicht Goethe mit seinem gelehrten Diwan oder Rückert mit seinen kunstfertigen Ghaselen, nein, Hölderlin, der sich für den Orient nicht sonderlich interessierte, ist der Sufi der deutschen Literatur, der Sonderling, der Närrische und Verlachte, bis hin zum Aufschrei, zum Verglühen, zur Auflösung. Die anderen schreiben über Mystik, er verkörpert sie:
     
    Nimm mich, wie ich mich gebe, und denke, daß es besser ist zu sterben, weil man lebte, als zu leben, weil man nie gelebt! Neide die Leidensfreien nicht, die Gözen von Holz, denen nichts mangelt, weil ihre Seele so arm ist, die nichts fragen nach Reegen und Sonnenschein, weil sie nichts haben, was der Pflege bedürfte. Ja! ja! es ist recht sehr leicht, glüklich, ruhig zu seyn mit seichtem Herzen und eingeschränktem Geiste. Gönnen kann man’s euch; wer ereifert sich denn, daß die bretterne Scheibe nicht wehklagt, wenn der Pfeil sie trifft, und der Topf so dumpf klingt, wenn ihn einer an die Wand wirft? 25
     
    Besser zu sterben, weil man lebte, als zu leben, weil man nie gelebt – das ist sufischer O-Ton, 10. Jahrhundert, und klingt zweihundert Jahre nach Hölderlin zugleich wie eine Fanfare des Rock ’n’ Roll: It’s better to burn out than to fade away .
    Natürlich bezieht sich Hölderlin durchgehend auf das Christentum. Was den Romanschreiber, weil er Orientalist ist, sufisch anmutet, aber in allen mystischen Traditionen Belege fände, entsteht dort, wo Hölderlin vom christlichen, also personal verstandenen Begriff des Göttlichen fort- und zugleich zurückschreitet zu der Abstraktion des reinen Anderen, einem bloßen Pneuma, das nicht mehr und noch nicht Subjekt ist. Dadurch ist das eigentümlich Beherrschte der religiösen Erfahrung aufgehoben, auf die das Neue Testament durch die Ausrichtung auf ein reales Gegenüber zielt, und das Selbst entfesselt:
     
    Eines zu seyn mit Allem, das ist Leben der Gottheit, das ist der Himmel des Menschen.
    Eines zu seyn mit Allem, was lebt, in seeliger Selbstvergessenheit
    wiederzukehren in’s All der Natur das ist der Gipfel der Gedanken und
    Freuden, das ist die heilige Bergeshöhe, der Ort der ewigen Ruhe, wo der
    Mittag seine Schwüle und der Donner seine Stimme verliert und das kochende
    Meer der Woge des Kornfelds gleicht.
    Eines zu seyn mit Allem, was lebt! 26
     
    An der Stelle, auf die alles ankommt, sprengt Hölderlin allerdings die mystische, also auch die christlich-mystische Tradition und nimmt zugleich unerwartet die Kreuzestheologie wieder auf. Hölderlin sprengt auch sein eigenes Vorhaben, sofern das frühere Fragment des Hyperion im vierten Band als ein Entwurf gelesen werden darf. Dort trällert noch die Sehnsucht ihr profilneurotisches Lied wie im Werther – wohin er blickt: sie!, was immer er sagt: sie!, was immer sie sagt: ja! Solche Liebesverhältnisse sind nicht mehr zu ertragen, seit sie psychologisch ausschraffiert werden: Aber den entscheidenden Schritt in das Unbekannte, den der Roman und mit ihm Friedrich Hölderlin als Dichter tut, geschieht zwischen dem ersten und zweiten Teil der letzten Fassung, also genau in den Monaten der entwürdigenden Zettelsucherei vor Suzettes Fenster im Sommer und Herbst 1798. Quälender als der Falter verbrennt die Kerze. Es ist nämlich gerade nicht Hyperion, sondern Diotima, die klagt:
     
    Dein Mädchen ist verwelkt, seitdem du fort bist, ein Feuer in mir hat mählig mich verzehrt, und nur ein kleiner Rest ist übrig. 27
     
    Während Hyperion sich als Schwärmer erweist, für den die Heftigkeit seiner Liebe etwas Entlastendes, Kathartisches hat, damit er sich um so selbstsüchtiger der Welt zuwendet, dem Kampf, dem Erfolg, dem Ruhm, ist es Diotima, die verändert zurückbleibt: das baqâ fi l-fanâ erreicht, das

Weitere Kostenlose Bücher