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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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    Die Gräber unsrer Freunde wie Stufen zu unserem eigenen hinuntergehen – das ist mehr als Becketts biblische Einsicht, daß Leben nur Sterben ist, das ist viel kleinmütiger und daher wahrhaftiger aus der Sicht des Menschen gesprochen. Nicht das Leben ist Sterben, sondern meins . In keiner anderen Vision der deutschen Literatur ist der Tod so erbärmlich auf den individuellen, weder religiös, noch gesellschaftlich oder philosophisch verallgemeinerten, konkret körperlichen, unmittelbaren, nackten und damit urmenschlichen oder vielmehr tierischen Schrecken reduziert, vernichtet zu werden. Eine Idylle ist Quintus Fixlein nur, damit sie zerspringt.
    Im Unterschied zu den längeren Werken hat der Roman nur einen Pfad, auf den Jean Paul von seinen Abschweifungen zurückkehrt, das nicht eben aufregende Leben eines Lehrers, der es dank glücklicher Umstände in einer Kleinstadt namens Flachsenfingen zum Pfarrer bringt. Das heißt, aufregend ist es schon, allerdings nicht, weil viel passiert, sondern weil es Egidius Zebedaus Fixlein (mit einem Allerweltsnamen wie Meister oder Moor speist Jean Paul keinen Helden ab), weil es Quintus Fixlein vor dem Tod graut, der bisher alle männlichen Mitglieder der Familie mit zweiunddreißig Jahren ereilte. Das Leben ist aufregend nur für ihn, und genau hierin liegt seine Wahrheit. Durch die denkbar einfachste, weder ausgeführte noch begründete Behauptung, daß der Held, an dem gerade nichts bemerkenswert scheint, im Alter von 32 Jahren sterben wird, erzeugt Jean Paul jene Spannung, die das langweiligste Leben noch für den hat, der es lebt.
    Normalerweise will ein Roman, daß man mit dem Helden bangt und leidet. Im Quintus Fixlein bangt und leidet jemand, aber man ist davon so betroffen, wie wenn man von der Unterhaltung am Nebentisch eines Restaurants zufällig einen Schicksalsschlag aufschnappt. Es hat nichts mit mir zu tun, es ist nur mein Nachbar; sobald ich die Rechnung bezahlt habe, gehe ich nach Hause und werde dem Getroffenen nie wieder begegnen. Nirgends habe ich das Mißverhältnis besser ausgedrückt gefunden von dem, was dem einen das Existentiellste, den übrigen hingegen notwendig gleichgültig ist. In einer Rundmail scheinbar an alle Adressen seines elektronischen Verzeichnisses, die Navid Kermani im Roman, den ich schreibe, am 10. September 2008 um 0:46 Uhr erreicht, verabschiedet sich jemand, dessen Name Navid Kermani nicht einzuordnen weiß, mit dem er vermutlich nur ein einziges Mal korrespondierte, ohne sich an den Anlaß zu erinnern, vorsorglich von allen Freunden und Bekannten, da er vor einer Operation stehe, die er womöglich nicht überlebe. Es geht Navid Kermani nicht mehr an als am 28. April desselben Jahres den Kollegen seine, Navid Kermanis Mitteilung, an Krebs erkrankt zu sein, nur daß der Kollege spontan O Gott ausrief, er müsse auch mal wieder zur Vorsorge. So unangenehm dem Kollegen selbst die Reaktion war, so emsig er sie durch Nachfragen relativierte, Navid Kermani nahm dem Kollegen den Affekt nicht übel, im Gegenteil, geradezu dankbar war er, da er selbst vom Subjekt zum Objekt seines Berichtes geworden war, etwas Ehrliches aufblitzen zu sehen, die unverstellte Ansicht, wieviel sein Schicksal für den anderen zählt. Wäre er nicht zufällig er, hätte die Mitteilung, an Krebs erkrankt zu sein, für Navid Kermani genauso wenig gezählt.
    In den Biographischen Belustigungen , die im selben Jahr wie der Quintus Fixlein entstanden und zunächst ganz und gar unlustig »das Bild eines kränklichen fieberhaften Herzens« 9 weitermalen, ohne sich um eine Historie zu scheren, bemerkt Jean Paul, daß der Mensch keine Vernunft annehme: einen einzelnen Friedhof zu sehen, gehe ihm ans Herz, wo er doch wisse, daß die ganze Erdkugel gleichsam mit Begrabenen überbaut sei
     
    und es einen Jammer gebe, den unser Mitleiden nicht umreichen kann, eine unabsehliche wimmernde Wüste, vor der das zergangne Herz zerrinnt und erstarrt, weil es nicht mehr Gequälte , sondern nur eine weite namenlose Qual erblickt. 10
     
    Mitleiden setzt voraus, vor dem meisten, nein, an so gut wie allem Leid unbeteiligt vorüberzugehen – daß prinzipiell vorübergegangen wird. Damit die Zeit vergeht, die ihn so ängstigt, weil sie den sicheren Tod zu bringen scheint – als ob die Zeit je etwas anderes brächte als den Tod –, legt Fixlein sich ins Bett und schließt die Augen,
     
    aber die Phantasie blies jetzt im Dunkel den Staub der Toten auf und trieb ihn zu

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