Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe
U-Boote ermöglichen. Von der Natur wäre die Frühgeborene abgestoßen worden. Es ist die Technik, das Künstlichste überhaupt, dank derer die Eltern an jenem »Gefühl der Vollendung« teilhaben. Schon bald wird die Natur »in das Extrem des Aorgischen des Unbegreiflichen, des Unfühlbaren, des Unbegrenzten« umschlagen. Die Außenwelt wird – vielleicht auch bei ihr dramatisch mit der Drei-Monatskolik, mit der Gott vielen Babys die Erkenntnis einbläut, daß sie das Paradies verlassen haben – als Schmerz, Bedrohung, Rätsel auf die Frühgeborene einwirken und ihr damit allmählich als etwas Äußeres bewußt werden. Sie selbst hingegen wird mit zunehmendem Alter in das andere Extrem übergehen, »in das Extrem der Selbstthätigkeit und Kunst, u. Reflexion. Ob sich »durch den Fortgang der entgegengesetzten Wechselwirkungen die beiden ursprünglich einigen sich« am Ende in der Sterbenden wieder verbunden haben, wie der Frieden nahelegt, den sie kurz vor ihrem Tod zu finden schien? Ob, wie es das jüdische Wort von der Schechina oder islamisch der Sakinah will, »der göttlichen Ruhe« oder des »himmlischen Friedens«, ob ihre letzten Minuten und Tage tatsächlich das seltsam besänftigende Gefühl verbreiteten, wie es wird oder werden könnte, so wie die Frühgeborene spüren läßt, wie es war oder gewesen sein könnte?
Diß Gefühl gehört vielleicht zum höchsten, was der Mensch erfahren kann, denn die jezige Harmonie mahnt ihn an das vormalige umgekehrte reine Verhältniß, und fühlt sich die Natur zweifach, u. die Verbindung ist unendlicher. 34
Ich danke Martin Rentzsch und Isaak Dentler vom Schauspiel Frankfurt, daß sie auch heute wieder Jean Paul und Hölderlin gelesen haben. Und ich danke Ihnen, meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer, für Ihre Aufmerksamkeit und würde mich freuen, Sie nächsten Dienstag wiederzusehen, wenn ich, so Gott will, über den Tod sprechen werde im Roman, den ich schreibe.
4. Vorlesung (1. Juni 2010)
Meine sehr verehrten Hörerinnen und Hörer,
vergangenen Dienstag sprach ich über das Ich, das Gott war, und eine Geburt. Heute möchte ich das Hilfsverb zwischen Ich und Gott ins Futur setzen und über den Tod sprechen, dem der Roman, den ich schreibe, den Titel verdankt, der noch im Vertrag steht: In Frieden .
Wie ich im Zusammenhang mit Hölderlin bereits schilderte, gerät Navid Kermani, um den Romanschreiber heute einmal so zu nennen, wenn ich nicht jedesmal auch vom Enkel, Sohn, Mann, Liebhaber, Freund, Orientalisten, der Nummer zehn oder dem Poetologen sprechen möchte, gerät Navid Kermani im Sommer 2006 in Umstände, die das Arbeiten, wie er es gewohnt ist, unmöglich machen. Gleichwohl hat er eine Vorstellung, nein, ein Bedürfnis nach dem Buch, das er schreiben will. Bislang habe ich dieses Buch nicht erwähnt, sondern bis hin zu den Namenslisten darüber gesprochen, was ihn in dem Augenblick abhält, in dem er den Laptop einschaltet und die Datei öffnet. Im Ursprung und Kern ist der Roman, den ich schreibe, ein Totenbuch. Navid Kermani hält fest, wer in seinem Leben stirbt. Im Hyperion heißt es:
O ihr Armen, die ihr das fühlt, die ihr auch nicht sprechen mögt von menschlicher Bestimmung, die ihr auch so durch und durch ergriffen seid vom Nichts, das über uns waltet, so gründlich einseht, daß wir geboren werden für Nichts, daß wir lieben ein Nichts, glauben ans Nichts, uns abarbeiten für Nichts, um mählich überzugehen in’s Nichts – was kann ich dafür, daß euch die Knie brechen, wenn ihr’s ernstlich bedenkt? Bin ich doch auch schon manchmal hingesunken in diesen Gedanken, und habe gerufen, was legst du die Axt mir an die Wurzel, grausamer Geist? und bin noch da. 1
Die Gründe für die Absicht, von allen Menschen Zeugnis abzulegen, die ihm auf Erden fehlen, sind in dem Roman, den ich schreibe, vielfältig, wenngleich nicht spektakulär, eine Häufung von Trauerfällen in seiner Umgebung, Schuldgefühle gegenüber Verstorbenen, ein mißlungener Versuch, den spezifischen Schock des Todes in einer konventionellen literarischen Form zu erfassen, gewiß auch der Eindruck, daß sein eigenes Leben aus den Fugen geraten ist, die Liebe am Boden, die Frau . . . und so weiter. So existentiell die Gründe Navid Kermani erscheinen, sind sie für die Poetik des Romans, den ich schreibe, nicht der Rede wert, gibt es doch, wie Jean Paul sagt,
keine fragende Brust in dieser runden Wüste, zu welcher nicht irgend
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