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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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aufgerichteten Riesen zusammen und jagte die hohlen aufgerissenen Larven wechselnd in Blitze und Schatten hinein. – Dann wurden endlich farbige Träume aus den durchsichtigen Gedanken, und es träumte ihn: er sehe aus seinem Fenster in den Gottesacker, und der Tod krieche klein wie ein Skorpion darauf herum und suche sich seine Glieder. Darauf fand der Tod Armröhren und Schienbeine auf den Gräbern und sagte: »Es sind meine Gebeine«, und er nahm ein Rückgrat und die Knochen und stand damit, und die zwei Armröhren und griff damit, und fand am Grab des Vaters von Fixlein einen Totenschädel und setzte ihn auf – Alsdann hob er eine Grassichel neben dem Blumengärtchen auf und rief: »Fixlein, wo bist du? Mein Finger ist ein Eiszapfen und kein Finger, und ich will damit an dein Herz tippen.« – Jetzt suchte das zusammengestoppelte Gerippe den, der am Fenster stand und nicht weg konnte, und trug statt der Sanduhr die ewig ausschlagende Turmuhr in der anderen Hand und hielt den Finger aus Eis weit in der Luft wie einen Dolch. 11
     
    Anfang 1795 schrieb Jean Paul den Quintus Fixlein , gut fünf Jahre nach dem 15. November 1790:
     
    Wichtigster Abend meines Lebens; denn ich empfand den Gedanken des Todes; daß es schlechterdings kein Unterschied ist, ob ich morgen oder in 30 Jahren sterbe. 12
     
    Gemäß der durchschnittlichen Lebenserwartung seines Jahrgangs, Erdteils und Geschlechts ziemlich genau an der Hälfte seines Lebens sah sich Jean Paul als einen Sterbenden, der kein Ich mehr ist, nur noch ein toter Körper, kein Subjekt mehr, nur noch Objekt.
     
    Ich wünsche iedem Menschen einen 15. November. Ich empfand, daß es einen Tod gebe. Das Kind begreift keinen, iede Minute seines spielenden Lebens steht glänzend und blendend vor ihm und stelt sich vor sein kleines grab. Aber an ienem Abend ging ich vor mein künftiges Sterbebette durch 30 Jahre hindurch, sah mich mit der hängenden Totenhand, mit dem eingestürzten Krankengesicht, mit dem Marmorauge – ich hörte meine kämpfenden Phantasien in der letzten Nacht – du kömst ia, du letzte Traumnacht; und da das so gewis ist, und da Ein verflossener Tag und 30 verflossene Jahre Eins sind, so nehm’ ich jetzt von der Erde und ihrem Himmel Abschied. 13
     
    Auf andere Weise, im Wortsinn prosaischer, hat auch Navid Kermani den »Gedanken des Todes« empfunden, bevor der Roman einsetzt, den ich schreibe, als ihn am Ufer des Biggesees im Sauerland eine Kurzmitteilung erreichte, die ihn über den Tod einer entfernten Bekannten informierte. Das Handtuch um die Hüfte gebunden, zog Navid Kermani sich noch die Badehose an, setzte sich dann hin und ging dann doch schwimmen wie geplant, weil ihm keine Reaktion einfiel, die der Situation angemessen gewesen wäre. Ihm fiel nicht einmal ein, bei wem er sich nach den Umständen des Todes erkundigen, wem er sein Beileid aussprechen konnte. Wieso stirbt jemand einfach so? fragte er sich. Wenn ihr Tod ohne Grund war, mußte es auch sein Leben sein. Als er eine halbe Stunde später wieder aus dem Biggesee stieg, wußte er, daß er zwar wieder die Hosen unterm Handtuch wechseln und ins Auto steigen würde, aber spätestens am Schreibtisch nur zwei Möglichkeiten hatte außer fortzufahren, als wäre nichts gewesen, aber da war etwas gewesen. Er konnte über die Verstorbene schreiben, damit ihr Leben auch für ihn Bedeutung gewänne – aber was?, er kannte sie kaum –, oder eine Frau erfinden, die auf gleiche Weise, in gleicher Entfernung stirbt. Heraus kam der erwähnte Versuch, den spezifischen Schock des Todes in einer konventionellen literarischen Form zu erfassen. Der Roman, den ich schreibe, setzt ein, als Navid Kermani nur noch festhalten will, wer in seinem Leben gestorben ist. Das Programm seines Totenbuchs hätte er schon nach den ersten Seiten bei Hölderlin finden können, wenn er den Hyperion nicht, Sie erinnern sich, zunächst in die Ecke gefeuert hätte, Band fünf der Leseausgabe, um genau zu bleiben.
     
    Wir bedauern die Todten, als fühlten sie den Tod, und die Todten haben doch Frieden. Aber das, das ist der Schmerz, dem keiner gleichkömmt, das ist unaufhörliches Gefühl der gänzlichen Zernichtung, wenn unser Leben seine Bedeutung verliert, wenn so das Herz sich sagt, du muß hinunter und nichts bleibt übrig von dir; keine Blume hast du gepflanzt, keine Hütte gebaut, nur daß du sagen könntest: ich lasse eine Spur zurük auf Erden. Ach! und die Seele kann immer so voll Sehnens seyn,

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