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Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe

Titel: Über den Zufall - Jean Paul, Hölderlin und der Roman, den ich schreibe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carl Hanser Verlag
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bei dem, daß sie so muthlos ist! 14
     
    Jean Paul erörtert die Todesangst nicht abstrakt – Wir bedauern die Todten –, sondern verfolgt in der Alltäglichkeit, was Sterben mit einem einzelnen Menschen anrichtet: Wenn mein Leben seine Bedeutung verliert. Dafür aber, und das macht sein Totenbuch so echt, muß er vom Leben des Quintus Fixlein erzählen, gerade insofern es gewöhnlich ist wie das Leben fast jedes Menschen für alle außer für Quintus Fixlein selbst, von Sommerlauben und dem ersten Kuß, von Hochzeit, Beruf und Taufe der Kinder, von Einkünften und Steuern bis auf den Heller und dem Austausch des Knopfs am Hukelumer Turm, dem Jean Paul ein eigenes Kapitel widmet. Wenn der Mensch nur darauf besteht, gewinnt eben auch der Austausch des Knopfs am Hukelumer Turm eine Bedeutung.
    Schon bevor Jean Paul darin auftaucht, merkt auch der Roman, den ich schreibe, daß er für ein Totenbuch vom Leben handeln muß, gerade insofern es gewöhnlich ist wie das Leben fast jedes Menschen für alle außer ihn selbst, vom Respekt eines Enkels, vom Schmerz eines Sohns, von der Dankbarkeit eines Vaters, der Liebe eines Manns, der Verzückung eines Liebhabers, der Treue eines Freundes, den Zweifeln eines Romanschreibers, der Nüchternheit eines Berichterstatters, der Kenntnis eines Orientalisten, der Begeisterung als Nummer zehn und zuletzt den Überlegungen eines Poetologen, kurz gesagt: von einem Menschen, der an einigen Stellen Navid Kermani genannt wird. Deshalb ist an dem Ungenügen, das er an Hölderlin spürt, wenn er ihn nach dem Tod befragt – dieser Eindruck, er würde ja nur philosophieren, die Vernichtung mystisch verklären – etwas Objektives, glaubt Navid Kermani, nur daß Hölderlin selbst es schon bezeichnet.
     
    Man kann auch in die Höhe fallen. 15
     
    Über den Tod an sich mag man rätselhaft dichten oder Gott darin suchen wie die Mystiker, aber am einzelnen Sterben prallt alle Fügung ab, alle Kunstfertigkeit und alle Vision. Deshalb findet Navid Kermani seinen Versuch mißlungen, eine Tote zu erfinden. Ich finde meinen vorherigen Roman keineswegs mißlungen, um das zu betonen, und erst recht fielen mir aus der Weltliteratur zahlreiche Beispiele offenkundig fiktiver Todesfälle ein. Ich finde auch keineswegs, daß Hölderlin an dieser Stelle des Romans, den ich schreibe, Gerechtigkeit widerfährt, man denke nur an das Ende des Hyperions und dessen Nachvollzug in seinem und im Leben von Suzette Gontard.
     
    Am Tage, da die schöne Welt für uns begann, begann für uns die Dürftigkeit des Lebens. 16
     
    Der Roman selbst, den ich schreibe, widerspricht seiner anfänglichen Poetologie, indem sich darin ein Roman im Roman entwickelt, der trotz gleichbleibender Thematik keineswegs im Hier und Jetzt spielt. Und doch erscheint nicht nur Navid Kermani, sondern auch mir Jean Pauls Hinwendung zum Tod nicht zufällig in jenen Romanen am wahrhaftigsten, deren Schauplätze und Personen am gewöhnlichsten, seiner Zeit und Umgebung am nächsten sind – in denen die Schauplätze und Personen nicht Allegorien sind wie etwa im Titan , sondern für nichts stehen als sich selbst.
     
    Der Mensch interessiert sich bloß für Nachbarschaft und Gegenwart ; der wichtigste Vorfall, der in Zeit und Raum sich von ihm entfernt, ist ihm gleichgültiger als der kleinste neben ihm. 17
     
    Wo andere Autoren Geschichten erzählen, erzählt Jean Paul von der Zeit, und zwar nicht eine angenommene oder erfundene Zeit, die Zeit eines Egidius Zebedaus Fixlein, sondern zugleich die Behauptung, ob konstruiert oder nicht, seiner eigenen realen Zeit, die Zeit eines Jean Paul Friedrich Richters, etwa der 20. April 1794 um 23 Uhr am Anfang des 13. Zettelkastens und noch genauer in den Biographischen Belustigungen , die bis hin zum »Gehirnbohrer der Migräne«, 18 der das Schreiben erschwert, beständig die Gegenwart des Romanschreibers ins Spiel bringen, so wie es in dem Roman, den ich schreibe, am 15. September 2008 2:48 Uhr ist, als Navid Kermani den Namen des Kranken, der die Rundmail verschickt hat, bei Google eingibt. Selbst die Zeit wird erfaßt, die während des Schreibens voranrückt, um 2:49 Uhr wegen des Allerweltsnamen zu viele Treffer bei Google oder am 1.Mai 1795 um vier Uhr abends
     
    der beklommne Herzschlag, den mir die Ruinen meines Weges gaben 19
     
    und genau anderthalb Stunden oder eine Seite später, hört der Romanschreiber draußen eine Singstimme und das sogenannte Zügenglöckchen, das die Mönche eines

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