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Ueber Deutschland

Titel: Ueber Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germaine de Staël
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Einheit der Zeit darf man's nicht so genau nehmen, es gehören mehr als vierundzwanzig Stunden zum Hungertode; übrigens ist der Vorgang immer derselbe von Anfang zu Ende; nur daß das immer wachsende Entsetzen eine Art von Fortschreiten in der Handlung andeutet., Es giebt nichts Erhabeneres als die Beschreibung des unglücklichen Vaters im Dante, der seine drei Söhne vor sich hinsterben sah, und jetzt in der Hölle die Zähne in den Schädel des grausamen Feindes einschlägt, der ihn in Pisa seiner Wuth opferte; aber diese Episode im Dante ist keinesweges der Stoff zu einem Trauerspiele. Eine Catastrophe allein macht noch keine Tragödie. Gerstenbergs Ugolino enthält kraftvolle Schönheiten; der Augenblick, wo man die Thüre zum Thurme zumauern hört, erregt den tiefsten Eindruck, dessen ein menschliches Gefühl fähig ist; es ist der lebendige Tod; aber die Verzweiflung läßt sich nicht durch fünf Akte hinhalten; der Zuschauer muß in der Zwischenzeit sterben oder sich trösten; und es ließe sich auf diese Tragödie anwenden, was ein geistvoller Amerikaner, Herr H. Morris, von den Franzosen im Jahr 1792 gesagt hat: «sie sind über die Freiheit hinausgegangen». Ueber das Pathetische hinausgehen, d. h. über die Gemüthsbewegungen hinausgehn, denen die Seelenkräfte gewachsen sind, heißt die Wirkung verfehlen, die sie hervorbringen sollen.
    Klinger, durch mehrere fein- und tiefgedachten Schriften bekannt, hat ein Trauerspiel geschrieben, die Zwillinge , worin viel Interesse liegt. Die Wuth des jüngern Bruders, eben weil er für den jüngern gelten muß; seine Empörung gegen das Recht der Erstgeburt, das in seinen Augen nur das Werk eines Augenblicks ist; beides wird im Stücke auf eine bewundernswerthe Weise ausgedrückt. Einige Schriftsteller sind der Meinung, die Geschichte des berühmten Mannes mit der eisernen Maske treffe mit einem nämlichen Umstande zusammen; wie dem auch sey, so fließt schon aus der Natur der Dinge, wie viel größer der Bruderneid über die Erstgeburt bei Zwillingsbrüdern seyn muß. Beide Brüder reiten aus; man erwartet sie zurück; der Tag verstreicht; Abends sieht man das Pferd des älteren Bruders zurückkommen. Ein so einfacher Umstand dürfte in einem französischen Trauerspiele nicht erzählt werden; gleichwohl ist er tief erschütternd; der entrüstete Vater rächt den Tod seines Erstgebornen an dem noch bleibenden Sohne. Dieses Trauerspiel, voller Wärme und Beredsamkeit, würde, wie mich dünkt, von großer Wirkung seyn, wenn von bedeutenden Namen die Rede wäre; aber man gewöhnt sich nicht an so heftige Leidenschaften, wo ein kleines Schloß an der Tiber der Gegenstand des Bruderzwistes ist. Wir können es nicht oft genug wiederholen, im Trauerspiele müssen historische Stoffe oder religiöse Lagen aufgestellt, und durch sie große Erinnerungen im Gemüth der Zuschauer rege gemacht werden; denn in den Dichtungen, wie im Leben, läßt die Einbildungskraft ihr Recht auf die Vergangenheit nicht fahren, so sehr sie auch nach der Zukunft lüstert.
    Die neue literarische Schule in Deutschland liebt mehr, wie jede andre, das Grandiose in der Art die schönen Künste auszufassen. Ihre Erzeugungen, sie mögen nun auf der Bühne gelingen oder nicht, sind das Resultat und das Gebäude von Reflexionen und Gedanken, deren Zergliederung interessant ist; allein das Theaterpublikum zergliedert nicht; man mag noch so siegreich darthun, ein Stück müsse gefallen, bleibt der Zuschauer kalt, so ist die dramatische Schlacht verloren; der Erfolg ist, bis auf wenige Ausnahmen, der beste Beweis des Talents in den Künsten; das Publikum ist fast immer ein scharfsinniger und gültiger Richter, wohlverstanden, wenn keine vorübergehende Umstände in sein Urtheil eingreifen.
    Viel teutsche Tragödien unter denen, die von den Verfassern nicht für die Bühne geschrieben wurden, sind schätzenswerthe Dichtungen. Eine der bemerkungswürdigsten, darunter ist Tiecks Genoveva. Die alte Legende, die diese Heilige zehn Jahre lang in der Wüste von Kräuter und Früchten leben, und ihres Kindes Leben mit der Milch einer getreuen Hirschkuh fristen läßt, wird in diesem dialogirten Roman unvergleichlich benutzt. Genoveva's fromme Ergebenheit ist mit den schönen Farben der heiligen Poesie ausgemalt; der Charakter des Mannes, der ihr Ankläger wird, nachdem er von der Hoffnung abstehen muß, ihr Verführer zu werden, ist von der Hand eines Meisters gezeichnet. Dieser Bösewicht weiß bei allen seinen

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