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Ueber Deutschland

Titel: Ueber Deutschland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Germaine de Staël
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die Philosophie erhalten, welche in allen Gegenden Deutschlands gährt. Zum wenigsten aber wage ich die Behauptung, daß Jeder von uns, der sich einer ernsten Arbeit, sie bestehe worin sie wolle, widmen will, in Hinsicht der Geschichte, der Philosophie und des Alterthums die Bekanntschaft der deutschen Schriftsteller, die sich damit beschäftigt haben, nicht entbehren kann.
    Frankreich kann sich einer großen Zahl von Gelehrten der ersten Stärke rühmen; allein selten sind in ihnen Kenntnisse mit philosophischem Scharfsinn verbunden gewesen, während beide in Deutschland gegenwärtig beinahe unzertrennlich sind. Die, welche die Unwissenheit als eine Gewährleistung der Anmuth in ihren Schutz nehmen, nennen eine Anzahl von Männern, welche viel Geist und wenig Gelehrsamkeit hatten; allein sie vergessen, daß eben diese Männer das menschliche Herz, so wie es sich in der Welt offenbart, gründlich studirt hatten, und daß ihre Ideen sich hierauf bezogen. Hätten diese über die Verhältnisse der Gesellschaft unterrichteten Männer über Gegenstände der Literatur urtheilen wollen, ohne dieselben zu kennen: so würden sie eben so langweilig geworden seyn, wie der Bürgerliche, wenn er über den Hof spricht.
    Als ich das Studium des Deutschen begann, kam es mir vor, als ob ich in eine ganz neue Sphäre träte, worin sich das auffallendste Licht über Alles verbreitete, was ich bis dahin auf eine verworrene Weise empfunden hatte. Seit einiger Zeit lieset man in Frankreich nur Denkwürdigkeiten oder Romane, und wahrlich nicht aus bloßem Flattersinn ist man ernsthafterer Lectüre minder fähig. Der Grund liegt vielmehr darin, daß die Begebenheiten der Revolution, die Franzosen gewöhnt haben, nur auf die Kenntniß der Thatsachen und der Personen einen Werth zu legen. In den deutschen Büchern über die abstraktesten Gegenstände findet man die Art von Interesse, welche nach guten Romanen lüstern macht, d. h. nach dem, was sie uns über unser eigenes Herz sagen. Der unterscheidende Charakter der deutschen Literatur besteht darin, daß alles auf das innere Daseyn bezogen wird; und da dies das Geheimniß der Geheimnisse ist, so knüpft sich daran eine gränzenlose Neugierde.
    Ehe ich zur Philosophie übergehe, welche in allen Ländern, wo die Literatur frei und mächtig ist, einen Theil derselben ausmacht, werde ich noch einige Worte über das sagen, was man als die Gesetzgebung dieses Reichs betrachten kann; ich meine die Kritik. Kein Zweig der deutschen Literatur ist weiter ausgebildet worden; und wie man in gewissen Städten mehr Aerzte als Kranke antrifft, so giebt es auch in Deutschland bisweilen mehr Kritiker als Autoren. Indeß sind die Zergliederungen Lessings, des Schöpfers der deutschen Prosa, von einer solchen Beschaffenheit, daß sie als Werke betrachtet werden können.
    Kant, Göthe, Johann von Müller, die größten Schriftsteller Deutschlands in allen Fächern, haben in die Journäle sogenannte Recensionen von verschiedenen, so eben bekannt gemachten Schriften eingerückt, und diese Recensionen enthalten die tiefsten philosophischen Theorien und die positiven Erkenntnisse. Unter den jüngeren Schriftstellern haben sich Schiller und die beiden Schlegel vor allen übrigen Kunstrichtern vorzüglich ausgezeichnet. Von Kants Schülern ist Schiller der Erste, welcher seine Philosophie auf die Literatur angewendet hat; und in Wahrheit macht es einen so großen Unterschied, ob man von der Seele ausgeht, um über die äußeren Gegenstände zu urtheilen, oder ob man von den äußeren Gegenständen über das, was in der Seele vorgeht, urtheilt, daß alles davon abhängt. Schiller hat zwei Abhandlungen über das Naive und Sentimentale geschrieben, in welchen das sich verkennende und das sich beobachtende Talent mit erstaunlichem Scharfsinn entwickelt worden sind; aber in seinem Versuch über die Anmuth und Würde und in seinen Briefen über die Aesthetik, d. h. die Theorie des Schönen, ist allzu viel Metaphysik. Will man von dem Kunstgenuß reden, für welchen alle Menschen empfänglich sind, so muß man sich immer auf die Eindrücke stützen, die sie erhalten haben, und sich nicht abstracte Formen erlauben, über welche die Spur dieser Eindrücke verloren geht. Schiller hing an der Literatur durch sein Genie und an der Philosophie durch seine Neigung für das Nachsinnen. Seine prosaischen Schriften halten sich innerhalb den Gränzen beider Regionen; indeß versteigt er sich nicht selten in die höchste, und indem er

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