Ueber Deutschland
unsere Ideen den Sensationen zuschreibt, und daß die Folgerungen von jener für die Praxis eben so schlecht sind, als die Folgerungen von dieser für die Theorie. Wer die sittenlosen Schriften, welche gegen das Ende des achtzehnten Jahrhunderts in Frankreich erschienen sind, hat lesen können, wird bezeugen, daß, wenn die Urheber dieser verbrecherischen Werke sich auf irgend eine Art von Raisonnement stützen wollen, sie immer auf den Einfluß des Physischen, auf das Moralische zurückkommen; auf die Sensationen beziehen sie die verdammlichsten Meinungen, und in allen nur möglichen Formen entwickeln sie die Lehre, welche den freien Willen und das Gewissen zerstört.
Man wird vielleicht sagen: es lasse sich nicht läugnen, daß diese Lehre herabwürdigend sey; allein, wenn sie gleichwohl wahr seyn sollte, so dürfe sie doch nicht zurückgestoßen werden, so dürfe man sich doch nicht absichtlich verblenden. Wahrlich, diejenigen hätten eine bejammernswerthe Entdeckung gemacht, die unsere Seele entthront und unseren Verstand zu der Selbstaufopferung verdammt hätten, alle seine Fähigkeiten an den Beweis zu verschwenden, daß die Gesetze der physischen Welt allein für ihn passen. Aber, Gott sey es gedankt – und dieser Ausdruck ist hier ganz an seinem Ort – Gott sey es gedankt, sag' ich, dies System ist durchaus falsch in seinem Prinzip, und der Vortheil, welchen die daraus gezogen haben, die sich mit der Vertheidigung der Immoralität befaßten, ist nur ein Beweis mehr für die Irrthümer, die es in sich schließt.
Wenn die meisten verderbten Menschen sich auf die materialistische Philosophie gestützt haben, um sich methodisch herabzuwürdigen, und ihren Handlungen eine Theorie zum Grunde zulegen: so hat dies daher gerührt, daß sie glaubten, sie könnten durch Unterwerfung ihrer Seele unter die Herrschaft der Sensationen sich von der Verantwortlichkeit ihres Betragens befreien. Ein tugendhaftes Wesen kann von der Wahrheit dieses Systemes nicht überzeugt seyn, ohne sich niedergeschlagen zu fühlen; denn es würde beständig fürchten, der unwiderstehliche Einfluß äußerer Gegenstände könne die Reinheit seiner Seele und die Stärke seiner Entschließungen stören. Sieht man aber Menschen sich darüber freuen, daß sie in allen Stücken das Werk der Umstände sind, und daß diese Umstände durch das Ungefähr in Verbindung gebracht werden: so schaudert man im Inneren seines Herzens über ihre verkehrte Selbstzufriedenheit.
Stecken die Wilden ihre Hütten in Brand, so wärmen sie sich, sagt man, mit Wohlgefallen an dem Feuer, das sie angezündet haben; sie üben alsdann wenigstens eine Art von Ueberlegenheit über die Unordnung aus, deren Urheber sie sind, und wissen die Zerstörung zu etwas zu benutzen. Wenn aber der Mensch Vergnügen daran findet, die menschliche Natur herabzuwürdigen: wer soll dann davon Nutzen ziehen?
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Viertes Capitel. Von der Spötterei, die eine gewisse Art von Philosophie eingeführt hat.
Das in einem Lande angenommene philosophische System übt einen großen Einfluß über die Richtung der Geister aus; es ist die allgemeine Form, in welcher sich alle Gedanken modeln; selbst Diejenigen, welche dies System nicht studirt haben, bequemen sich, ohne es zu wissen, nach der allgemeinen Stimmung, welche es einflößt.
Man hat, seit beinahe einem Jahrhundert, in Europa einen hohnlächelnden Scepticismus entstehen und sich verbreiten gesehen, dessen Grundlage gerade die Metaphysik ist, welche alle unsere Ideen unseren Sensationen zuschreibt. Das erste Prinzip dieser Philosophie ist: nur das zu glauben, was als Thatsache oder als Calcul bewiesen werden kann; und an dieses Princip schließen sich auf der einen Seite die Geringschätzung der Gefühle, die man exaltirte nennt, aus der andern die Hinneigung zu materiellen Genüssen an. Diese drei Punkte der Lehre enthalten alle Arten von Ironie, deren Gegenstände die Religion, die Empfindsamkeit und die Moral seyn können.
Bayle, dessen gelehrtes Wörterbuch von den Weltleuten wenig gelesen wird, ist gleichwohl die Rüstkammer, wo man alle Spöttereien des Scepticismus gefunden hat. Durch Witz und Anmuth hat Voltaire sie anziehend gemacht; aber der Grund von dem allen ist und bleibt, daß man zu den Träumereien rechnen müsse, was nicht eben so evident ist, wie eine physische Erfahrung. Es erfordert Gewandtheit, die Unfähigkeit zur Aufmerksamkeit als den höchsten Grund aufzustellen, welcher alles Dunkle
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