Ueber Deutschland
diesen ungerechten Hemmnissen befreit. Allein die Gränzen, welche sie sich selbst vorschreibt, unterjochen sie nicht nur nicht, sondern geben ihr sogar eine neue Stärke, nämlich die, welche aus der Autorität solcher Gesetze hervorgeht, in welche Diejenigen, die sich ihnen unterwerfen, mit Freiheit eingewilligt haben.
Ein Taubstummer könnte, auch ehe er von dem Abbe Sicard erzogen worden, eine innere Gewißheit von dem Daseyn Gottes haben. Sehr viele Menschen stehen zu den tiefen Denkern in eben dem Verhältniß, worin die Taubstummen zu den übrigen Menschen stehen; gleichwol sind sie nicht minder fähig, die ursprünglichen Wahrheiten an sich selbst zu erkennen, weil diese Wahrheiten-in das Gebiet des Gefühls gehören.
In dem physischen Studium des Menschen erkennen die Aerzte das Princip, das ihn beseelt, und doch weiß keiner zu sagen, was das Leben ist; und wenn man darüber zu raisonniren begönne, so könnte man, wie einige griechische Philosophen es wirklich gethan haben, den Menschen beweisen, daß sie nicht leben. Eben so verhält es sich mit Gott, dem Gewissen, dem freien Willen. Man muß daran glauben, weil man sie fühlt. Jedes Argument ordnet sich immer dieser Thatsache unter.
An einem lebendigen Körper kann die Anatomie sich nicht üben, ohne ihn zu zerstören; und indem die Analysis sich an untheilbaren Wahrheiten versucht, verändert sie ihr Wesen schon dadurch, daß sie ihre Einheit beeinträchtigt. Wenn die eine Hälfte unserer Seele die andere beobachten soll, so muß unsere Seele sich theilen; und auf welche Weise diese Theilung auch Statt habe: so raubt sie unserem Wesen die erhabene Identität, ohne welche wir nicht die erforderliche Kraft haben, das zu glauben, was .das Gewissen allein bestätigen kann.
Man vereinige eine große Menschenzahl im Theater oder auf einem öffentlichen Platze, und trage ihr vor, welche Raisonnements-Wahrheit oder welche allgemeine Idee man wolle — und man wird beinahe eben so viele verschiedene Meinungen sich offenbaren sehen, als es versammelte Individuen giebt. Dagegen, wenn einige Züge von Seelengröße erzählt werden, oder einige Töne von Großmuth sich vernehmen lassen: so zeigt ein einhälliges Entzücken, daß man jenen Instinkt der Seele berührt hat, der in unserem Wesen eben so lebhaft, eben so mächtig ist, als der das Leben erhaltende Instinkt.
Indem Kant die Kenntniß übersinnlicher Wahrheiten auf ein Gefühl bezieht, das keinen Zweifel gestattet, indem er zu beweisen sucht, daß das Raisonnement nur in der Sphäre der Sensationen Gültigkeit hat, ist er weit davon entfernt, die Macht des Gefühls für eine Täuschung zu halten; er weiset demselben vielmehr den ersten Rang in der menschlichen Natur an; er macht aus dem Gewissen das angeborne Princip unserer moralischen Existenz, und das Gefühl des Gerechten und des Ungerechten ist in seiner Ansicht eben so das ursprüngliche Gesetz des Herzens, wie Raum und Zeit das des Verstandes.
Hat der Mensch nicht mit Hülfe des Raisonnements den freien Willen geläugnet? Und doch ist er von dem Daseyn desselben so überzeugt, daß er zu seinem eigenen Erstaunen Achtung oder Verachtung selbst gegen die Thiere in sich wahrnimmt; so sehr glaubt er an eine freie Wahl des Guten und des Bösen in allen Wesen.
Nur unser Gefühl giebt uns Gewißheit von unserer Freiheit, und diese Freiheit ist die Grundlage der Lehre von der Pflicht; denn wenn der Mensch frei ist, so muß er sich selbst Bewegungsgründe schaffen, welche die Wirkung der äußerlichen Gegenstände bekämpfen und den Willen von dem Egoismus losreissen. Die Pflicht ist zugleich der Beweis und die Gewährleistung von der metaphysischen Unabhängigkeit des Menschen.
In den folgenden Capiteln werden wir Kants Argumente gegen die aus den persönlichen Eigennutz gegründete Moral, und die erhabene Theorie untersuchen, welche er an die Stelle dieses heuchlerischen Sophisma, oder dieser verkehrten Lehre bringt. In Hinsicht des ersten Kantischen Werks, ich meine die Kritik der reinen Vernunft kann es zweierlei Ansichten geben; gerade weil er selbst das Raisonnement für unzureichend und contradictorisch erkannt hat, mußte er sich darauf gefaßt machen, daß Man es gegen ihn richten könnte. Allein, es scheint mir unmöglich, seine Kritik der practischen Vernunft , und die verschiedenen Schriften, deren Gegenstand die Moral ist, nicht mit Hochachtung zu lesen.
Kants Moralprincipe sind nicht bloß streng und rein, wie man sie von der
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