Ueber Deutschland
gegen den guten Geschmack, ihr beizutreten; alle Schäfchen von derselben Heerde kommen dann nach einander, den Ideen den Garaus zu machen, die aber deshalb nicht weniger blieben was sie gewesen sind. Es ist höchst wahrscheinlich, daß das menschliche Geschlecht eben so einer Erziehung fähig ist, als der einzelne Mensch, und daß es auf der ewigen Bahn der Zeiten für die Fortschritte des Gedankens bestimmte Epochen giebt. Die Reformation war die Aera der Forschung und der ausgeklärten Ueberzeugung, die auf jene folgte. Das Christenthum ist erst gegründet, dann verderbt, dann untersucht und zuletzt begriffen worden, und diese verschiedenen Perioden waren nöthig für seine Entwickelung. Sie haben bisweilen ein Jahrhundert, bisweilen ein Jahrtausend gedauert; das höchste Wesen, das aus der Ewigkeit schöpft, hält mit der Zeit nicht nach unserer Weise Haus.
Als Luther auftrat, war die Religion nur noch eine politische Macht, die wie ein weltliches Interesse angegriffen und vertheidigt wurde. Luther führte sie auf den Boden des Gedankens zurück. Der historische Gang des menschlichen Geistes ist in Deutschland in dieser Hinsicht bemerkenswerth, Als jene, durch die Reformation verursachten Kriege ausgetobt und die französischen Flüchtlinge sich in den verschiedenen Staaten des nördlichen Deutschlands niedergelassen hatten: da wendeten sich die philosophischen Studien, welche immer das Innere des Gemüths zum Gegenstande hatten, sehr natürlich nach der Religion hin, und im achtzehnten Jahrhunderte giebt es keine Literatur, worin man über diesen Vorwurf eine so große Zahl von Suchern anträfe, wie in der deutschen Literatur.
Lessing, einer von den kräftigsten Geistern Deutschlands, hat nie aufgehört, die ganze Stärke seiner Logik gegen die so oft wiederholte Maxime zu richten: daß es gefährliche Wahrheiten giebt. In Wahrheit, es ist eine seltsame Anmaßung einiger Individuen, zu glauben, daß sie berechtigt seyen, ihren Mitmenschen die Wahrheit zu verbergen, und sich das Vorrecht beizulegen. Wie Alexander vor den Diogenes zu treten, um uns ewige Strahlen der alten gemeinschaftlichen Sonne zu entziehen. Diese angebliche Klugheit ist nur die Theorie des Charlatanismus; man will Ideen auf die Seite bringen, um die Menschen desto biegsamer zu machen. Die Wahrheit ist Gottes Werk; die Lügen sind das Werk der Menschen. Studirt man die Epochen der Geschichte, wo man die Wahrheit fürchtete, so wird man immer sehen; daß es dann geschah, wenn der besondere Vortheil auf irgend eine Weise gegen die allgemeine Tendenz ankämpfte.
Von aller Beschäftigung ist die Untersuchung der Wahrheit die edelste, und ihre Bekanntmachung ist eine Pflicht. Ist die Untersuchung aufrichtig, so ist von ihr nichts, weder für die Religion noch für die Gesellschaft zu fürchten; ist sie es nicht, so ist es nicht die Wahrheit, sondern die Lüge, die das Uebel hervorbringt. In dem Menschen giebt es kein Gefühl, von welchem man nicht den philosophischen Grund ausfinden könnte; keine Meinung, sogar kein noch so allgemein verbreitetes Vorurtheil, das seine Wurzel nicht in der Natur hätte. Man muß also forschen, nicht um den Glauben zu zerstören, sondern um ihn auf die innere, nicht er,schlichene Ueberzeugung zu stützen.
Irrthümer dauern bisweilen sehr lange; aber sie verursachen immer eine sehr schmerzliche Unruhe. Betrachtet man den Thurm von Pisa, der nach seiner Grundfläche hinneigt, so stellt man sich vor, er werde einstürzen, ob er gleich Jahrhunderte vorgehalten hat; die Einbildungskraft beruhigt sich erst in Gegenwart von festen und regelmäßigen Gebäuden. Auf dieselbe Weise verhält es sich mit dem Glauben an zuverläßige Grundsätze; was auf Vorurtheile gegründet ist, beunruhigt, und mit Vergnügen sieht man die Vernunft die erhabensten Anschauungen des Gemüths mit ihrer ganzen Macht unterstützen.
Die Intelligenz schließt in sich das Princip für Alles, was sie durch die Erfahrung erwirbt, und mit großem Recht, sagte Fontenelle: man glaube die Wahrheit zu erkennen, sobald sie nur angekündigt würde . Wie könnte man sich also einbilden, daß richtige Ideen und die innere Ueberzeugung, die sie hervorbringen, sich nicht früher oder später begegnen sollten? Zwischen der Wahrheit und der menschlichen Vernunft giebt es eine zum Voraus festgestellte Harmonie, welche bewirkt, daß sie sich einander immer näher kommen.
Den Leuten vorschlagen, daß sie sich nicht ihre Gedanken mittheilen sollen, heißt ungefähr
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