Ueber Deutschland
tauben Schicksals, das immer mit den Sterblichen in Streit liegt, oder wenn die weise Ordnung, die ein höheres Wesen leitet, das unser Herz befragt und das unserm Herzen antwortet, dargestellt werden soll?
Die heidnische Poesie muß einfach seyn, und in die Augen springend, wie die äußerlichen Gegenstände; die christliche Poesie braucht tausend Regenbogenfarben, um sich nicht in den Wolken zu verlieren. Die Poesie der Alten ist reiner, als Kunst betrachtet, die der Neueren lockt die Thränen mehr hervor; aber hier ist die Rede nicht von der classischen und von der romantischen Poesie, als solche, sondern von der Nachahmung der einen und der Begeisterung der andern. Die Literatur der Alten ist bei den Neueren ein verpflanztes Gewächs, die romantische oder ritterliche Literatur ist einheimisch unter uns; unsre Religion und unsre Gesetze haben ihre Blüthe gezogen. Die Schriftsteller, welche die Alten nachahmen, haben sich den strengsten Geschmacksregeln unterworfen; denn, da sie weder ihre eigene Natur, noch ihre eigenen Erinnerungen zu Rathe ziehen konnten, mußten sie sich den Gesetzen fügen, nach welchen die Meisterstücke der Alten unserm Geschmack angepaßt werden konnten, obgleich alle politische und religiöse Verhältnisse, die diesen Meisterstücken das Daseyn gaben, verändert waren. Darum sind diese Poesieen im Geiste des Alterthums, wie vortrefflich sie auch sonst seyn mögen, selten populär, weil sie in der gegenwärtigen Zeit mit nichts, was national ist, zusammenhängen.
Da die französische Poesie die am meisten classische aller modernen Poesieen ist, so ist sie die einzige, die nicht im Volke lebt. Die Stanzen des Tasso werden von den Gondolieren in Venedig gesungen, die Spanier und Portugiesen aller Classen wissen ihren Calderon und Camoens auswendig, Shakspeare wird in England eben so sehr vom Volke, als von den höheren Standen bewundert, Gedichte von Bürger und Göthe mit Volksweisen ertönen vom Rhein bis zur Ostsee. Unsre französischen Dichter finden überall Bewunderung, weil es cultivirte Geister bei uns und im übrigen Europa giebt; aber sie sind dem Volke und selbst dem Bürgerstande in den Städten völlig unbekannt, da die schönen Künste in Frankreich nicht, wie anderwärts, in dem Lande der Entstehung ihrer Schönheiten selbst ihren Ursprung haben.
Einige französische Critiker haben behauptet, die Literatur der Germanischen Völker läge noch in der Kindheit der Kunst; diese Meinung ist durchaus falsch: die Deutschen, welche die Sprachen und die Werke der Alten am besten inne haben, mißkennen gewiß eben so wenig die Nachtheile, als die Vortheile einer Gattung der Kunst, die sie annehmen oder die sie verwerfen. Aber Charakter, Sitten und Raisonnement haben sie dahin geleitet, die Literatur, welche sich auf die Erinnerungen der Ritterzeiten, auf das Wunderbare des Mittelalters, gründet, der vorzuziehn, deren Basis die Mythologie der Griechen ist. Die romantische Literatur ist die einzige, die noch der Vervollkommnung fähig ist, weil, da ihre Wurzeln im eignen Boden ruhen, sie allein wachsen und sich neu beleben kann; sie spricht unsre Religion aus; sie ruft unsre geschichtlichen Erinnerungen zurück: ihr Ursprung ist alt, aber nicht antik.
Die classische Literatur muß durch die Erinnerungen des Heidenthums ihren Durchgang nehmen, um zu uns zu gelangen; die Poesie der Deutschen ist die christliche Zeitrechnung der schönen Künste: sie bedient sich unsrer persönlichen Eindrücke, um uns zu rühren; der Genius, der sie beseelt, richtet sich unmittelbar an unser Herz, und scheint unser Leben selbst wie das mächtigste und das schrecklichste aller Phantome vor uns aufsteigen zu lassen.
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Zwölftes Capitel. Von den deutschen Gedichten.
Es ergiebt sich, so scheint es mir, aus den verschiedenen Betrachtungen im vorstehenden Capitel, daß es keine klassische Poesie in Deutschland giebt, nehme man das Wort klassisch als die Nachahmung des Alterthums bezielend, oder nur dadurch den möglichst hohen Grad der Vollkommenheit auszudrücken. Die fruchtbare Einbildungskraft der Deutschen läßt sie eher produciren, als verbessern, auch kann man in ihrer Literatur wenig Werke angeben, die dort selbst als Muster gölten. Die deutsche Sprache ist noch nicht fixirt; der Geschmack ändert sich bei jedem neuen Erzeugniß eines Schriftstellers von Talent; alles ist im Fort-, im Vorwärtsschreiten, und der feste Punkt der Vollkommenheit noch nicht erreicht.
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