Über Gott und die Welt
weigern, blo-
ßer Tauschwert zu sein, offen für den Erfi ndungsreichtum der vom räuberischen Kapitalismus ausgebeuteten Arbeiterklasse.
Rückkehr zu einem Goldenen Zeitalter oder Ankündigung einer Utopie, der Traum einer Sache …
Freilich, alles bisher Gesagte gilt nur für den AvoKaVo, der kein professioneller Kunstkritiker ist. Die Lage des professionellen Kunstkritikers ist sozusagen noch kritischer: Er muß zwar über das Werk sprechen, aber ohne sich über dessen Wert zu äußern.
Die bequemste Lösung besteht im Aufweis, daß der Künstler in Eintracht mit der herrschenden Weltanschauung gearbeitet hat, beziehungsweise, wie man heute gern sagt, mit dem Zeitgeist oder der unterschwellig bestimmenden Metaphysik. Jede unterschwellig bestimmende Metaphysik steht für einen Modus des Seienden, also dessen, was ist. Ein Gemälde gehört zweifellos zu den Dingen, die sind, und stellt unter anderem, so infam dieses sein mag, das Seiende dar (auch ein abstraktes Gemälde stellt dar, was sein könnte, beziehungsweise was im Universum der reinen Formen ist) . Wenn die unterschwellig bestimmende Metaphysik zum Beispiel behauptet, alles Seiende sei nichts anderes als Energie, so ist die Aussage, daß Prosciuttinis Werke Energie seien und Energie darstellten, jedenfalls keine Lüge; allenfalls eine Binsenwahrheit, doch eine Binse, die den Kritiker rettet und die sowohl Prosciuttini als auch den Galeristen und den künftigen Käufer beglückt.
Das Problem besteht darin, diejenige unterschwellig bestimmende Metaphysik auszumachen, von welcher dank ihrer Beliebtheit in einer gegebenen Phase alle schon einmal gehört haben. Sicher könnte man etwa mit Berkeley sagen: »Esse est percipi«, um daraus abzuleiten, daß Prosciuttinis Werke sind, weil sie wahrgenommen werden. Doch da die fragliche Metaphysik selbst unterschwellig nicht allzu bestimmend ist, würden sich Prosciuttini und die Leser womöglich des krassen Binsencharakters der Aussage innewerden.
Hätten die Dreiecke Prosciuttinis in den späten fünfziger Jahren vorgestellt werden müssen, so wäre es folglich, unter Anspielung auf die sich überschneidenden unterschwelligen Strömungen Banfi -Paci und Sartre-Merleau-Ponty (im Schnittpunkt die Schule Husserls), passend gewesen, die fraglichen Dreiecke etwa zu defi nieren als »Darstellung des ureigentlichen Aktes der Intendierung, welcher, indem er eidetische Zonen konstituiert, noch aus den reinen Formen der Geometrie eine Lebenswelt macht«. Erlaubt gewesen wären damals auch Variationen in Termini der Gestaltpsychologie: Die Aussage, Prosciuttinis Dreiecke hätten eine »gestalthafte Prägung«, wäre unwiderlegbar gewesen, da jedes Dreieck, wenn es als Dreieck erkennbar ist, eine gestalthafte Prägung hat. In den sechziger Jahren wäre Prosciuttini zeitgemäßer erschienen, wenn man in seinen Dreiecken eine Struktur in Homologie zum Pattern der Lévi-Strauss’schen Ver wandtschaftsstrukturen gesehen hätte. Unter Anspielung auf das Verhältnis von Strukturalismus und ‘68 konnte man sagen, daß gemäß der Widerspruchstheorie von Mao, die den Hegeischen Dreischritt nach den binären Prinzipien des Yin und des Yang vermittelt, die beiden Prosciuttinischen Dreiecke das Verhältnis von Grund- und Nebenwiderspruch evidenzierten. Und es glaube hier keiner, das strukturalistische Muster ließe sich nicht auch auf die Flaschen Morandis anwenden: tiefe Flasche (deep bottle) contra superfi zielle Flasche …
Freier sind die Optionen des Kritikers seit den siebziger Jahren.
Das blaue Dreieck, das vom roten Dreieck durchquert wird, ist natürlich die Epiphanie des Wunsches (Désir), der nach einem Anderen (Autre) strebt, ohne sich je mit ihm identifi zieren zu können. Prosciuttini ist der Maler der Differenz, genauer: der Differenz in der Identität. Zwar fi ndet sich die Differenz-in-der-Identität auch im Verhältnis Kopf-Zahl auf jeder gewöhnlichen Münze, aber die Dreiecke Prosciuttinis bieten sich auch dazu an, in ihnen einen Fall von Implosion zu erkennen – wie übrigens auch die Bilder von Pollock und die Einführung von Suppositorien auf analem Wege (Schwarze Löcher). In Prosciuttinis Dreiecken steckt darüber hinaus die wechselseitige Annullierung von Tausch- und Gebrauchswert. Und mit einem subtilen Verweis auf die Differenz im Lächeln der Mona Lisa, das von der Seite gesehen als eine Vulva erkennbar wird (und in jedem Falle béance, also sprachloses Baffsein ist), könnten die Dreiecke
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