Über Gott und die Welt
er den Bravo oder den Aufstand nicht vorfand, sie uns aus einem historischen Dokument herauspräparierte, wie er uns das Dokument präsentierte und mit jansenistischer Ehrlichkeit versicherte, daß er nichts von sich aus rekonstruiert habe, sondern nur biete, was jeder X-Beliebige in der Bibliothek hätte fi nden können. Einzige Ausnahme: die Fiktion der alten Handschrift, einziges Zugeständnis an den Requisiteur, aber zu seiner Zeit gab es in Mailand sicher noch einige von jenen Antiquariaten, wie man sie heute noch im Barrio Gotico von Barcelona fi ndet, wo man sich für wenig Geld ein ganz wunder-schönes altes Pergament machen lassen kann.
Das genaue Gegenteil haben wir auf der anderen Seite, ich sage nicht bloß in vielen pseudohistorischen Romanen von der Falschheit eines Trovatore, sondern auch im ganzen de Sade und in den Gothic Novels, wie aus einer neuen Studie von Giovanna Franci, La messa in scena del terrore, sehr klar hervorgeht (und wie in anderen Begriffen auch schon Mario Praz dargelegt hat).
Ich spreche gar nicht von den gigantischen Kosten, die William Beckford für seinen Vathek aufbringen mußte, denn hier sind wir schon bei der symbolischen Ausschweifung, die schlimmer ist als D’Annunzios Vittoriale oder Ludwigs Neuschwanstein. Auch die Schlösser, Abteien und Krypten einer Ann Radcliffe, eines Matthew Gregory Lewis oder Horace Walpole sind keine Bauten, die man bezugsfertig an der nächsten Straßenecke vorfi ndet, ich kann es bezeugen. Es handelt sich um sehr kostspielige Romane, die, auch wenn sie Bestseller wurden, nicht soviel eingebracht haben, wie sie verschlangen, und zum Glück waren ihre Autoren alle begüterte Aristokraten, denn von den Rechten allein hätten selbst ihre Erben nicht leben können. Zu dieser prunkvollen Reihe ganz und gar artifi zieller Romane gehört natürlich auch Rabelais’ Gargantua und Pantagruel. Und strenggenommen auch die Göttliche Komödie.
Ein Werk scheint mir auf der Mitte zu liegen, nämlich der Don Quijote. Denn der edle Ritter de la Mancha zieht zwar durch eine Welt, die so ist, wie sie ist, und die Windmühlen stehen schon da. Aber seine Bibliothek muß sehr teuer gewesen sein, denn jene Ritterromane sind allesamt nicht die originalen, sondern eindeutig auf Bestellung neugeschrieben worden, und zwar von Pierre Menard.
All diese Überlegungen sind auch darum von einem gewissen Wert, weil sie vielleicht dazu dienen, den Unterschied zwischen zwei Formen von erzählender Prosa zu verstehen, für die das Italienische (wie das Deutsche) nur einen Ausdruck hat, während das Englische sie in novel und romance unterscheidet. Die novel ist realistisch, bürgerlich, modern, und sie kostet wenig, weil der Autor eine Erfahrung benutzt, die er gratis gemacht hat. Die romance ist phantastisch, aristokratisch, hyperrealistisch und sehr kostspielig, weil alles darin Inszenierung und Rekonstruktion ist. Und wie rekonstruiert man anders als durch Benutzung schon vorhandener Requisiten? Ich fürchte, dies ist die wahre Bedeutung von so abstrusen Begriffen wie »Dialogismus« und
»Intertextualität«. Nur genügt es nicht, um Erfolg zu haben, möglichst viel auszugeben und möglichst viel rekonstruiertes Zeug zusammenzubringen. Man muß auch wissen, daß man es tut, und wissen, daß der Leser es weiß, und folglich darüber ironisieren.
Salgari hatte nicht genug Ironie, um seine Welt als kostspielige Fiktion anzuerkennen, und darin lag seine Begrenzung, aus welcher er nur von einem Leser erlöst werden kann, der ihn heute wiederliest, als hätte er damals gewußt, was er tat.
Viscontis Ludwig und Pasolinis Salò sind traurig, weil die Autoren ihr Spiel ernst nehmen, vielleicht um sich für den ge-habten Kostenaufwand zu entschädigen. Aber das Geld kommt nur wieder herein, wenn man es mit der Nonchalance des Großen Herrn ausgibt, wie es eben genau die Meister der Gothic Novel taten. Deshalb faszinieren sie uns und bilden, wie der amerikanische Kritiker Leslie Fiedler anregt, das Modell einer postmodernen Literatur, die sogar zu unterhalten vermag.
Sehen wir, was man alles entdecken kann, wenn man metho-disch eine gute und nüchterne ökonomistische Logik auf die kreativen Werke anwendet? Vielleicht könnte man sogar die Gründe fi nden, warum bisweilen der Leser, aufgefordert zur Besichtigung imaginierter Schlösser, in denen sich Schicksale künstlich kreuzen, das Spiel der Literatur erkennt und daran Gefallen fi ndet.
Natürlich darf der Autor, wenn er
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