Über Gott und die Welt
viele Schleichwege die Dialektik von Repression und Befreiung geht. Und der harte Kampf um mehr Licht.
Auch durch die Leisten.
( Corriere della sera, 12. August 1976)
Wie man einen Ausstellungskatalog bevorwortet
Die nachstehenden Bemerkungen taugen zur Anleitung eines Autors von Ausstellungskatalogvorworten (im folgenden kurz AvoKaVo). Sie taugen, wohlgemerkt, nicht zur Abfassung einer historisch-kritischen Analyse für eine Fachzeitschrift, und das aus mehreren und komplexen Gründen, als deren erster zu nennen wäre, daß kritische Analysen zumeist von anderen Kritikern rezipiert und beurteilt werden und nur selten vom analysierten Künstler (entweder ist er kein Abonnent der betreffenden Zeitschrift oder bereits seit zweihundert Jahren tot). Das Gegenteil dessen, was in der Regel mit Katalogen zu Ausstellungen zeitgenössischer Kunst geschieht.
Wie wird man ein AvoKaVo? Leider nur allzu leicht. Es ge-nügt, einen intellektuellen Beruf auszuüben (sehr gefragt sind Atomphysiker und Biologen), ein auf den eigenen Namen
eingetragenes Telefon zu besitzen und eine gewisse Reputation zu haben. Die Reputation bemißt sich wie folgt: Sie muß an geographischer Reichweite dem Aktionsradius der betreffenden Ausstellung überlegen sein (also bezirks- oder landesweit für Städtchen mit weniger als sechzigtausend Einwohnern, bundes-weit für Landeshauptstädte und weltweit für Hauptstädte souverä-
ner Staaten, ausgenommen Andorra, Liechtenstein, San Marino) und an Tiefe geringer als die Breite des Bildungshorizontes der möglichen Bilderkäufer (handelt es sich zum Beispiel um eine Ausstellung von alpinen Landschaften im Stil Segantinis, so ist es nicht nötig, ja sogar schädlich, im New Yorker zu schreiben, und es empfi ehlt sich eher, Leiter der örtlichen Volkshochschule zu sein). Natürlich muß man vom interessierten Künstler aufgesucht worden sein, aber das ist kein Problem, denn die Zahl der interessierten Künstler ist größer als die der potentiellen AvoKaVos. Sind diese Bedingungen einmal gegeben, so ist die Wahl zum AvoKaVo auf die Dauer nicht zu vermeiden, unabhängig vom Willen des Kandidaten. Will ihn der Künstler, so wird es dem potentiellen AvoKaVo nicht gelingen, sich der Aufgabe zu entziehen, es sei denn, er wählte die Emigration in einen anderen Kontinent. Hat er dann akzeptiert, so muß er sich eine der folgenden AvoKaVo-Motivationen aussuchen:
A) Bestechung (sehr selten, denn wie man sehen wird, gibt es weniger aufwendige Motivationen). B) Sexuelle Gegenleistung.
C) Freundschaft, in den beiden Versionen der wirklichen Sympathie oder der Unmöglichkeit, sich zu verweigern. D) Geschenk einer Arbeit des Künstlers (nicht identisch mit der folgenden Motivation, also mit der Bewunderung für den Künstler, denn man kann ja auch wünschen, Bilder geschenkt zu bekommen, um sich mit ihnen einen verkäufl ichen Stock anzulegen). E) Echte Bewunderung für die Arbeit des Künstlers.
F) Wunsch, den eigenen Namen mit dem des Künstlers zu
assoziieren (eine fabelhafte Investition für junge Intellektuelle, denn der Künstler wird sich beeilen, ihre Namen in zahllosen Bibliographien künftiger Kataloge im In- und Ausland bekannt-zumachen). G) Teilhaberschaft ideologischer oder ästhetischer oder auch kommerzieller Art an der Entwicklung einer Tendenz oder einer Kunstgalerie. Letzteres ist der heikelste Punkt, dem sich auch der ehern uneigennützigste AvoKaVo nicht zu entziehen vermag. Ein Literatur- oder Film oder Theaterkritiker, der ein besprochenes Werk in den Himmel lobt oder in Grund und Boden verreißt, beeinfl ußt dessen weiteres Schicksal recht wenig: Der Literaturkritiker steigert mit einer guten Besprechung den Absatz eines Romans um ein paar hundert Exemplare; der Filmkritiker kann eine billige Pornokomödie zerpfl ücken, ohne dadurch zu verhindern, daß sie Unsummen einspielt, ebenso auch der Theaterkritiker. Der AvoKaVo hingegen erhöht durch seine Intervention die Notierungen sämtlicher Werke des Künstlers beträchtlich, manchmal in Sprüngen von eins auf zehn.
Dies kennzeichnet auch die Kritikerlage des AvoKaVo: Der Literaturkritiker kann sich abfällig über einen Autor äußern, den er womöglich gar nicht kennt und der (in der Regel) die Publikation des Artikels in einer gegebenen Zeitung nicht zu kontrollieren vermag. Der Künstler hingegen bestellt und kontrolliert den Ausstellungskatalog. Selbst wenn er den AvoKaVo ermuntert: »Seien Sie ruhig streng«, ist die Lage de facto
Weitere Kostenlose Bücher