Über Gott und die Welt
unhalt-bar: Entweder man lehnt ab (doch wir haben gesehen, daß man nicht kann), oder man äußert sich mindestens freundlich. Oder verschwommen.
Darum ist in dem Maße, wie der AvoKaVo seine Würde zu
wahren und seine Freundschaft mit dem betreffenden Künstler zu retten trachtet, Verschwommenheit der tragende Grundzug aller Ausstellungskatalogvorworte.
Nehmen wir einen imaginären Fall: den des Malers Prosciuttini, der seit dreißig Jahren ockerfarbene Flächen malt, darauf ein blau-es gleichschenkliges Dreieck, dessen Basis parallel zum unteren Rand des Bildes verläuft und dem sich ein rotes ungleichseitiges Dreieck, schräg nach unten rechts geneigt, transparent überlagert. Der AvoKaVo muß nun der Tatsache Rechnung tragen, daß Prosciuttini sein Bild, entsprechend dem jeweils herrschenden Zeitgeist, von 1950 bis 1980 nacheinander folgendermaßen beti-telt hat: »Composition«, »Zwei plus Unendlich«, »E = Mc 2 «, »Allende, Allende, il Cile non si arrende!«, »Le Nom du Père«, »A/traverso«,
»Privato«. Wie kann sich der AvoKaVo angesichts dieser Lage ehrenvoll aus der Affäre ziehen? Leicht, wenn er ein Dichter ist: Er widmet dem Künstler ein kleines Gedicht. Zum Beispiel: Pfeilgleich
(Oh grausamer Zenon!)
schnellt
ein andres Geschoß.
Abgezirkelte Parasange
eines maladen Kosmos
krankend an farbigen
Schwarzen Löchern.
Eine blendende Lösung, prestigefördernd für den AvoKaVo wie für den Künstler, für den Galeristen wie für den künftigen Käufer.
Die zweite Lösung ist ausschließlich den Erzählern vorbehalten und kann zum Beispiel die Form eines frei ausgreifenden Offenen Briefes annehmen:
»Lieber Prosciuttini, beim Anblick Deiner Dreiecke ist mir, als wäre ich unversehens in Uqbar, wie es bezeugt ward von Jorge Luis … Ein Pierre Menard, der mir Gebilde, neugeschaffen in anderen Zeiten, vorsetzt: Don Pythagoras de la Mancha.
Laszivitäten, um hundertachtzig Grad umgewendet – wird es uns jemals gelingen, uns von der Notwendigkeit zu befreien?
Es war ein Junimorgen im sonnendurchglühten Hügelland, am Telegrafenmast aufgehängt ein Partisan. Jung wie ich war, bekam ich Zweifel am Wesen der Norm …« etc.
Leichter ist die Aufgabe für einen in den exakten Wissenschaften geschulten AvoKaVo. Er kann von der Überzeugung ausgehen (die ja im übrigen zutreffend ist), daß auch gemalte Bilder Elemente der Realität sind. Er braucht also nur von sehr pro-funden Aspekten der Realität zu sprechen. Zum Beispiel so:
»Prosciuttinis Dreiecke sind Diagramme. Propositionale Funktionen konkreter Topologien. Knoten. Wie gelangt man von einem gegebenen Knoten U zu einem anderen Knoten V? Es bedarf dazu, wie bekannt, einer Bewertungsfunktion F. Erscheint F(U) kleiner als oder gleich F(V), so muß man für jeden anderen Knoten V, den man ins Auge faßt, U in dem Sinne entwickeln, daß von U abstammende Knoten entstehen. Eine perfekte
Bewertungsfunktion erfüllt demnach die Bedingung: F(U)=
F(V), so daß sich ergibt: wenn d(U-Q), dann kleiner als oder gleich d(V-Q), wobei d(A-B) evidenterweise die Distanz zwischen A und B im Diagramm bezeichnet. Kunst ist Mathematik.
Dies die Botschaft von Prosciuttini.«
Es mag auf den ersten Blick so scheinen, als seien Lösungen dieser Art vielleicht ganz brauchbar für ein abstraktes Gemälde, nicht aber für einen Morandi oder für einen Guttuso. Irrtum.
Natürlich hängt es von der Geschicklichkeit des Mannes der Wissenschaft ab. Zur allgemeinen Orientierung wollen wir sagen: Man kann heutzutage zeigen, wenn man René Thoms Katastrophentheorie mit der nötigen Unbefangenheit zu nutzen weiß, daß in den Stilleben von Morandi die Flaschen auf jener äußersten Schwelle des Gleichgewichts dargestellt sind, hinter welcher sich ihre natürlichen Formen jählings außer und gegen sich selbst verkehren würden und klirrend zerbrächen wie ein vom Knall eines Ultraschalljägers prall getroffenes Kristall. Und die Magie des Malers liegt genau in der treffenden Darstellung dieser Grenzsituation. Spiel mit der englischen Übersetzung von Stilleben: still life = noch Leben, aber bis wann? – Still-Until: magische Differenz zwischen Noch-Sein und Sein-Danach …
Eine andere Möglichkeit bestand zwischen 1968 und, sagen wir, 1972: die politische Interpretation. Bemerkungen über den Klassenkampf, über die Korruption der von ihrer Vermarktung befl eckten Objekte. Kunst als Revolte gegen die Warenwelt, Prosciuttinis Dreiecke nun als Formen, die sich
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