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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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eine gute Figur machen will, nicht auf die Kosten achten.
    (1983)
    VI
    De Consolatione Philosophiae
    Vom Trost der Philosophie
    Kein Thema, das jeden Tag Schlagzeilen macht; aber von großer Aktualität ist die Debatte über die Reform der Lehrpläne an den höheren Schulen, und dabei geht es auch um die Reform des Philosophie-Unterrichts. Reform oder Abschaffung zugunsten – wie es heißt – der Humanwissenschaften. Kürzlich habe ich mich auf einer Tagung der Philosophischen Gesellschaft in Bologna zu der Äußerung hinreißen lassen, man solle die herrschende Praxis nicht einfach deshalb verwerfen, weil sie von den Herrschenden stammt. Jedenfalls was den Unterricht in Philosophiegeschichte betrifft. Verglichen mit der Art, wie Philosophie in anderen Ländern (wenn überhaupt) unterrichtet wird, scheint mir die italienische noch die fortschrittlichste zu sein.
    Wären die Dinge in Italien anders gelaufen und hätte Gramsci die Praxis bestimmt, so würde auf unseren Schulen heute, glaube ich, Philosophiegeschichte gelehrt. Anders? Sicher, die Entwicklung des abstrakten Denkens würde besser mit der allgemeinen Kultur-und Sozialgeschichte verknüpft und man würde besser zu zeigen versuchen, wie sehr es in allen Debatten der Philosophen immer um aktuelle Probleme geht. Aber ist es möglich, ich will gar nicht sagen von Sokrates, sondern auch von Parmenides in aktuellen Begriffen zu sprechen? Ich glaube, ja. Um Humanwissenschaften zu betreiben, genügt es nicht, Kriminalromane zu lesen, als ob sie Parmenides wären, man muß auch Parmenides lesen, als ob er ein Kriminalroman wäre.
    Sprechen wir also genau von Parmenides. Beginnen wir mit den traditionellen Klischees einer Philosophiegeschichte der
    »Großen Namen«. Parmenides ist der Denker des Unbewegten und Einen Seins. Die Kugel, eine massive, unteilbare, immer und überall gleiche Einheit, dergegenüber die Vielfältigkeit der Erfahrung und mit ihr die Geschichte, das Werden, das Leben, das Leiden, der Schmerz und der Tod reine Illusion sind. Dagegen Heraklit: Alles fl ießt. In einem Wechsel von Haß und Liebe zerteilt sich das Leben im dialektischen Spiel der Ereignisse und somit der Geschichte. Wer ist in diesem hehren Paar der Reaktionär und wer der Vorfahre des marxistischen Historismus? Die Rollen sind festgelegt, wie bei Romulus und Remus, Napoleon und Wellington, Bibì und Bibò. Aber treiben wir nun ein bißchen Humanwissenschaften, verbinden wir die Höhenfl üge des denkenden Denkens mit den Kleinkariertheiten der Kulturanthropologie und gewinnen wir die Legenden zurück mit Hilfe des eingeborenen Informanten: Lesen wir das Leben der Philosophen von Diogenes Laertius. Aus dem wir erfahren, daß Heraklit, hochfahrend und funkelnd, wie gewisse »Marxisten«
    der Frankfurter Schule war, die Masse verursachte ihm ein physisches Jucken, er wollte nicht teilhaben an der demokratischen Stadtregierung des Pöbels, und er schrieb bewußt dunkel, damit ihn das ungebildete Volk nicht verstand. Und Parmenides? Um Parmenides zu verstehen, sehen wir uns seinen Schüler (und Buhlen) Zenon an, jenen Zenon von Elea, der zur Unterstützung der Thesen des Meisters behauptete, daß die Bewegung nicht zu beweisen sei: Achilles werde die Schildkröte niemals einholen und der fl iegende Pfeil komme nie auch nur einen Millimeter im reglosen Raum, den er einnimmt, voran. Doch was tat Zenon? Er starb bei einer Widerstandsaktion. Er organisierte eine Revolte gegen den Tyrannen Nearchos (oder auch Diomedon). Das heißt: an jener reglosen Unveränderlichkeit, die Paul Valéry so faszi-nierte, fand Zenon, cruel Zénon, Zénon d’Elée, daß etwas verändert werden müsse. Als er gefaßt und gefoltert wurde, damit er die Namen der Mitverschwörer verrate, biß er sich die Zunge ab und spuckte sie dem Tyrannen ins Gesicht (nach anderen Quellen versprach er ihm geheime Enthüllungen, biß ihm ins neugierig hingehaltene Ohr und ließ es so lange nicht wieder los, bis man ihn durchbohrte, womit er sich der Folter durch Tod entzog). In jedem Falle hatte er, bevor er starb, noch eine glänzende Idee:
    »Er gab die Namen sämtlicher Freunde des Tyrannen an, in der Absicht, ihn völlig zu isolieren.«25
    Wie das? Der Philosoph des dialektischen Fließens war
    ein Reaktionär und der Philosoph des reglosen Kosmos ein Revolutionär? Wunderschönes Problem für die jungen Initianden in Philosophie! Denn erstens ist daraus zu ersehen, daß es zwischen Theorie und Praxis keine

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