Über Gott und die Welt
Villa, während diese hier ganz ist, die Archäologen Paul Gettys haben Pläne und Modelle anderer römischer Villen studiert, sie haben gelehrte Konjekturen vorgenommen, archäologische Syllogismen aufgestellt und haben die Villa so rekonstruiert, wie sie vermutlich gewesen war oder zumindest hätte gewesen sein müssen. Meine Führerin ist verlegen, denn sie weiß, daß die modernen Auffassungen der Museumsdidaktik einen modernen, aseptischen Rahmen verlangen, Leitmodell ist das Guggenheim Museum von Frank Lloyd Wright. Sie fürchtet, daß die Besucher, verwirrt zwischen der hyperrealen Nachbildung und dem Echten, womöglich die Orientierung verlieren und am Ende den äußeren Rahmen für echt halten und das Innere für eine große Ansammlung von modernen Kopien. In der Abteilung Dekorative Künste enthalten die Räume à la Versailles lauter echte und kostbare Stücke, aber auch hier ist die Rekonstruktion beherrschend, mag der gedruckte Führer auch jeweils präzise angeben, was authentische Antiquität und was moderne Nachbildung ist; der »Régence Period Room« hat eine Täfelung aus dem Hôtel Herlaut, aber die Stuckdecke samt Rosette ist rekonstruiert, und das Parkett, obwohl aus dem 18. Jahrhundert, gehörte nicht zum originalen Ambiente; die Kommoden sind aus der Epoche, aber aus anderen Residenzen, außerdem sind es zu viele, und so weiter. Gewiß, in dieser Rekonstruktion erhält der Besucher eine viel bessere Vorstellung von der Architektur französischer Innenräume zur Zeit des Rokoko, als wenn er die Objekte aufgereiht in separaten Vitrinen sähe, aber die Konservatoren des Getty Museum sind europäisch erzogen und fürchten, daß auf ihre Arbeit ein Schimmer des Verdachts und der Verwirrung fällt, die von Experimenten wie dem Hearst Castle ausgehen.
Andererseits sind die Erklärungen von Paul Getty, die man im Führer nachlesen kann, sehr wohlüberlegt und schlüssig. Wenn es sich um einen Irrtum handelt, dann um einen luziden, geboren nicht aus unbedachter Improvisation oder Naivität, sondern aus einer präzisen Philosophie der Möglichkeit des Nacherlebens von europäischer (Kunst-)Geschichte an den Küsten eines Kalifornien, das zwischen Andenken an die Pioniere und Disneyland schwankt, also in einem Land mit viel Zukunft, aber so gut wie keiner historischen Reminiszenz.
Wie kann ein reicher Mann mit Liebe zur Kunst die hehren Gefühle vermitteln, die ihn eines Tages in Herculaneum oder Versailles bewegten? Wie kann er seinen Mitbürgern klarmachen, was Europa war? Ganz einfach: Er stellt seine Kunstschätze mit erklärenden Beischriften in einer möglichst neutralen Umgebung zur Schau. In Europa heißt die neutrale Umgebung Louvre, Uffi zien, Castello Sforza oder Tate Gallery gleich neben der Westminster Abbey. Es ist leicht, ein neutrales Ambiente zu schaffen für Besucher, die den Atem der Geschichte gleich ne-benan verspüren, die das neutrale Ambiente betreten, nachdem sie erhebende Gänge zwischen ehrwürdigem Gemäuer hinter sich haben. Aber in Kalifornien, zwischen dem Pazifi k auf der einen Seite und Los Angeles auf der anderen, umgeben von Restaurants in Melonen- und Hamburgerform, nach Anfahrten über vierstöckige, unendlich verschlungene Autobahnen? Was tut er hier? Er rekonstruiert die Papyrus-Villa. Er verläßt sich auf deutsche Archäologen, die nicht übertreiben, die seine Büsten aus Herculaneum in ein Bauwerk stellen, das einen kleinen römischen Tempel reproduziert, und wenn er genügend Geld hat, läßt er den Marmor aus dem Herkunftsort des Modells kommen und die Facharbeiter allesamt aus Neapel, Carrara oder Venedig, und das schreibt er dann auch. Kitsch? Vielleicht. Aber im Sinne des Hearst Castle? Nicht unbedingt. Im Sinne des Palace of Living Arts oder der Magic Rooms of Madonna Inn? Im Sinne der Venus von Milo mit Armen? Sicher nicht.
Der Palace of Living Arts oder das Madonna Inn sind Werke gerissener Ausbeuter des Prestiges der Kunst. Das Lyndon B.
Johnson Memorial ist das Werk eines arrivierten Texaners, der jede seiner Gesten für geschichtswürdig hält und noch der Rechnung seiner Wäscherin ein Kenotaph errichtet. Das Hearst Castle ist das Werk eines allzu reich gewordenen Reichen mit Heißhunger nicht auf die Kunst, sondern auf das Prestige, das die Kunst zu geben vermag – und nur sein Geld und seine eklektische Neigung haben ihn daran gehindert, eine totale Fälschung herzustellen (die in diesem Sinne dann »echter« gewesen wäre, wie etwa
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