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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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Faszination die Verheißung des Feuertodes für den Märtyrer hatte, zumal er diesen Tod, auf den er so brennend versessen war, auch noch anderen zuschreiben konnte. Natürlich muß im heutigen Kalifornien, wo selbst ein Massenmörder wie Charles Manson ungestört im Gefängnis leben und Freigang be-antragen kann, wo also die herrschende Macht sich weigert, den Tod zu verabreichen, das Verlangen nach Märtyrertum aktivere Formen annehmen – kurz gesagt: Do it yourself.
    Man könnte die historischen Parallelen noch fortsetzen, etwa mit den Kamisarden zu Anfang des 18. Jahrhunderts, den Propheten der Cevennen im 17. Jahrhundert, den Veitstänzern oder Konvulsionären des Sankt Medardus usw. bis zu den diversen Pfi ngstbewegungen der Tremulanten und Zungenredner, die heute auch Italien überfl uten und vielerorts von der katholischen Kirche absorbiert werden. Es genügt jedoch, die charakteristischen Merkmale des von Jones gegründeten Kultes mit einem abstrakten Modell der diversen millenaristischen Kulte zu vergleichen (ohne die feineren Unterschiede zu berücksichtigen), um ein paar durchgängige Elemente zu fi nden. Der Kult entsteht im Moment einer Krise (spiritueller, sozialer, ökonomischer Art), indem er, als Attraktion einerseits für die wirklich Armen und andererseits für »Reiche« mit schlechtem Gewissen und starkem Verlangen nach Selbstbestrafung, den baldigen Weltuntergang und das Kommen des Antichrist prophezeit ( Jones erwartete einen faschistischen Staatsstreich und den nuklearen Holocaust).
    Er beginnt mit einer Kampagne für Gütergemeinschaft und redet den Gläubigen ein, sie seien die Auserwählten. Als solche gewinnen sie bald Vertrauen zum eigenen Körper und gehen, nach einer Phase strenger Keuschheit, zu Praktiken äußerster sexueller Freiheit über. Der charismatisch begabte Anführer unterwirft die Gläubigen seiner psychologischen Herrschaft und macht sich, zum Wohle des Ganzen, sowohl ihre materiellen Güter zunutze wie ihre Bereitschaft, sich mystisch besitzen zu lassen. Nicht selten werden Drogen und/oder Praktiken der Selbstsuggestion verwen-det, um den inneren Zusammenhalt der Gruppe zu gewährleisten. Der Anführer durchläuft verschiedene Phasen zunehmender Vergöttlichung. Die Gruppe geht von der Selbstkasteiung zur Gewalt gegen Andersdenkende über und dann, aus Verlangen nach Martyrium, zur Gewalt gegen sich selbst. Auf der einen Seite kommt es zu einem Verfolgungswahn, auf der anderen löst das Sonderverhalten der Gruppe in der Gesellschaft eine reale Verfolgung aus, und der Gruppe werden auch Untaten zuge-schrieben, die sie gar nicht begangen hat.
    Im Falle von Jones hat die liberale Einstellung der amerikanischen Öffentlichkeit den Sektengründer dazu getrieben, das Komplott, das er brauchte, selber zu konstruieren (die Geschichte mit dem Kongreßabgeordneten, der die Gruppe angeblich zerstören wollte) und damit die Gelegenheit zur Selbstzerstörung.
    Wie man sieht, ist also auch das Motiv der Flucht in die Wälder präsent. Mit anderen Worten, Jones’ »Kirche vom Tempel des Volkes« ist nichts anderes als eines der vielen Beispiele für ein Wiederaufl eben jener millenaristischen Kulte, in denen am Ende (nach einem Beginn, der gerechtfertigt war durch soziale Krisen, Pauperismus, Ungerechtigkeit, Protest gegen die herrschende Macht und die herrschende Unmoral) die Auserwählten einer Versuchung erliegen, die letztlich gnostischen Ursprungs ist – nämlich der Vorstellung, daß man, um sich zu befreien von der Herrschaft der Engel, der Herren des Kosmos, alle Formen der Perversion durchmachen und den Sumpf des Bösen durch-queren müsse.
    Doch warum das alles nun heute, warum so oft in den USA und warum gerade in Kalifornien? Wenn der Millenarismus aus sozialer Unsicherheit entsteht und in Zeiten historischer Krisen ausbricht, kann er sich anderswo immerhin noch in gesellschaftlich
    »positiven« Formen verkörpern: in Revolutionen, in Kreuz- und Eroberungszügen, in Kämpfen gegen Tyrannen, sogar in gewaltlo-sem Streben nach Märtyrertum wie bei den ersten Christen, und in all diesen Fällen beruht er auf einer sehr tragfähigen Theorie, die ihm eine gesellschaftliche Rechtfertigung des eigenen Opfers erlaubt; oder er kann die historisch positiven Formen imitieren, ohne sich um gesellschaftliche Rechtfertigungen zu kümmern (wie es die Roten Brigaden tun). Jedoch in einer Gesellschaft wie der amerikanischen, wo heute kein Thema mehr existiert, an dem man sich abarbeiten

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