Über Gott und die Welt
die Geschichte von Charles Manson und seiner Strand-Buggy-Streitmacht6, so haben wir das Röntgenbild eines kalifornischen Kultes und seiner fatalen Degeneration vor Augen. Ein Bild, das jedem aufmerksamen Politiker zeigen würde, wo es mit der Moon-Sekte enden könnte und mit den Scientologists und sogar mit den Hare Krishnas.
Wie kommt es nun aber, daß solche Dinge passieren, und warum ausgerechnet in Kalifornien? Der zweite Teil der Frage ist ziemlich naiv. Es gibt gewiß Gründe, warum Kalifornien ein besonders günstiges Klima für Kulte hat, aber das Grundmuster ist viel älter. In wenigen Worten, der Kult von Jones und seiner Kirche des Tempels hatte alle Merkmale der chiliastischen oder millenaristischen Endzeitbewegungen, die sich von der Spätantike bis heute durch die Geschichte des Christentums ziehen (und ich spreche hier nur von dieser, denn es würde viel Zeit erfordern, vom jüdischen Messianismus zu sprechen, von den analogen orientalischen Kulten, von den diversen Korybantismen der Antike und von den vergleichbaren Kulten in Afrika, die sich heute ganz ähnlich auch in Brasilien fi nden7).
Die Reihe beginnt wahrscheinlich im dritten Jahrhundert nach Christus mit dem extremen Flügel der Donatisten, den sogenannten Circumcellionen in Nordafrika. Sie zogen in Horden mit Knüppeln bewaffnet durchs Land, attackierten die Truppen des Reiches, ermordeten die der Römischen Kirche ergebenen
»Feinde des Glaubens« und blendeten ihre theologischen Gegner mit einer Mischung aus Kalk und Essig; in ihrem Durst nach Martyrium überfi elen sie Reisende und bedrohten sie mit dem Tode, um sich von ihnen martern zu lassen, sie veranstalteten orgiastische Totengelage und begingen anschließend Selbstmord, indem sie sich von den Klippen stürzten. Im Gefolge der verschiedenen Auslegungen der Apokalypse, die das Millennium als das nahe Weltengericht prophezeiten, bildeten sich die verschiedenen mittelalterlichen Endzeitbewegungen: die Fratizellen und die Apostler des Gherardo Segarelli, aus denen die Revolte des Fra Dolcino hervorging, die Brüder vom Freien Geiste und die des Satanismus verdächtigten Turlupiner, die verschiedenen Katharergruppen, die sich mitunter dem Suizid durch Fasten bis zum Verhungern verschrieben (der »Endura«). Im zwölften Jahrhundert läßt sich der Wanderprediger Tanchelm, ein Mann von imposantem Charisma, sämtliche Reichtümer seiner Anhänger geben und überzieht die Niederlande mit Schrecken, Eudes de l’Etoile verschleppt seine Anhänger in die bretonischen Wälder, bis alle auf dem Scheiterhaufen verenden, die Horden von Tafurs, wüste Gesellen mit struppigem Haar und starrend von Schmutz, verlegen sich während der Kreuzzüge allerorten auf Plünderungen, Kannibalismus und Massaker unter den Juden, ungezügelt im Kampf und gefürchtet von den Sarazenen, im drei-zehnten Jahrhundert verbreiten sich die Flagellantenbewegungen (Geißler, Kreuzträger, Brüder des Kreuzes), die von Dorf zu Dorf ziehen und sich mit Peitschen blutig schlagen, später im Elsaß verschreibt sich der »Oberrheinische Revolutionär« mit rabiater Wut dem Massaker an Klerikern. Die Reformationszeit erlebt den mystischen Kommunismus in Münster, wo die Anhänger Thomas Münzers unter Johann von Leiden einen theokratischen Stadtstaat gründen, der auf Gewalt und Verfolgung beruht, die Gläubigen müssen auf alle irdischen Güter verzichten und werden zur sexuellen Promiskuität gezwungen, während der Anführer immer mehr göttliche und kaiserliche Attribute annimmt, die Widerspenstigen werden tage- und nächtelang in der Kirche eingeschlossen, bis alle am Boden liegen und dem Propheten zu Willen sind, und schließlich purifi ziert sich das Ganze in einem grauenvollen Gemetzel, in dem alle Gläubigen umkommen.
Man könnte hier einwenden, daß der Selbstmord nicht in allen diesen Bewegungen obligatorisch war, doch obligatorisch war mit Sicherheit der gewaltsame Tod, das Blutbad, die Vernichtung im Feuer des Scheiterhaufens. Und es ist leicht zu begreifen, warum das Motiv des Selbstmords (das übrigens auch schon bei den Circumcellionen präsent war) scheinbar erst heute auftaucht: Das Verlangen nach Martyrium, nach Tod und Purifi kation im Feuer wurde für die Bewegungen der Vergangenheit von der herrschenden Macht erfüllt. Und man braucht nur ein Meisterwerk unserer mittelalterlichen Literatur zu lesen, nämlich die Geschichte des Minoriten Fra Michele, um zu erkennen, welche erregende, unausweichliche
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