Über Gott und die Welt
kann wie noch zur Zeit des
Vietnamkrieges, wo die Sozialämter auch den Ausgestoßenen oder Ausgestiegenen noch eine Unterstützung gewähren, wo aber die Vereinsamung und die Mechanisierung des Lebens so groß sind, daß immer mehr Menschen sich in Drogen fl üchten oder allein am Straßeneck Reden halten, dort wird die Suche nach Ersatzkulten hektisch. Kalifornien ist ein von der restlichen Welt abgeschnittenes Paradies, wo alles erlaubt ist und wo sich alles an einem zwanghaften Idealbild von »Glück« inspiriert (es gibt dort nicht einmal mehr den Schmutz von New York oder von Detroit, man ist verurteilt, glücklich zu sein). Jede Verheißung eines Gemeinschaftslebens, jeder beliebige »Neue Bund«, der eine Regeneration verspricht, ist also willkommen. Man kann sich ebensogut ins Jogging stürzen wie in satanische Riten oder in neue Formen des Christentums. Die Drohung der »Spalte«, des großen Bebens im San-Andreas-Graben, das Kalifornien eines Tages vom Kontinent »abbrechen« und ins Meer wegdriften lassen wird, drückt mythisch auf das ohnehin schon durch die artifi zielle Lebensweise geschwächte Bewußtsein. Warum also dann nicht auch Jones und der schöne Tod, den er verspricht?
In Wahrheit bestehen, so betrachtet, kaum Unterschiede zwischen den destruktiven Horden der Roten Khmer, die
Kambodschas Städte entvölkern, um eine mystische Republik von todessüchtigen Revolutionären zu schaffen, und jenen destruktiven Sektiererhorden, die hunderttausend Dollar für ihren Propheten aufbringen. Amerika urteilt negativ über den chinesischen Rigorismus, die kubanische Dauermobilisierung und den rasenden Radikalismus der Kambodschaner. Wenn es nun fest-stellen muß, daß sich die gleiche Sehnsucht nach millenaristischer Renovatio in seinem eigenen Innern erhebt, und wenn es sie gar entstellt in der asozialen Form des Massenselbstmordes sieht, kann es nicht begreifen, daß die Verheißung, eines Tages auf dem Saturn zu landen, nicht genügt. Und sagt, etwas »Unbegreifl iches«
sei geschehen.
(Dezember 1978)
Mit wem halten es die Orixà?
Abends fahre ich mit ein paar Freunden, die mich herumführen, an den äußersten Stadtrand von São Paulo, in die Gegend des internationalen Flughafens. Eine Fahrt von knapp einer Autostunde zu den afro-brasilianischen Riten. Wir gelangen zu einem großen Gebäude, ein bißchen erhöht über einem Gewirr von armseligen Behausungen, gerade noch keine Favela, die Favela liegt weiter draußen, man sieht ihre trüben Lichter von fern. Das Gebäude macht einen soliden Eindruck, es scheint ein Bethaus zu sein. Es ist ein Terreiro, ein Tempel des Candomblé.
Ausländische Touristen, aber auch Brasilianer, die ihn noch nie besucht haben (und das sind sehr viele, die meisten, jedenfalls von der mittleren Bourgeoisie an aufwärts), würden erregt von Macumba sprechen.
Wir stellen uns vor. Ein alter Neger reinigt uns mit Weihrauch.
Ich mache mich auf eine Lokalität von der Art gewisser Umbanda-Zelte gefaßt, die ich früher gesehen habe, Triumphstätten des religiösen Kitsches, verstärkt durch synkretistische Toleranz: Altäre voller Kruzifi xe und Madonnenfi guren, indischen Göttern und roten Teufelchen wie in den Schauspielen von Lindsay Kemp.
Statt dessen ist der Saal fast schmucklos und von einer geradezu protestantischen Strenge. Im hinteren Teil die Bänke für die Nicht-Initiierten, an der Seite neben dem Parkett der Trommler die Polstersitze für die Ogà. Die Ogà sind Leute aus den besseren Kreisen, oft Intellektuelle, nicht unbedingt gläubige, aber den Kult respektierende Bürger, die zu ehrenamtlichen Gemeinderäten und Garanten des Tempels gewählt worden sind, und zwar auf Anweisung einer höheren Gottheit. Der große Romancier Jorge Amado bekleidet das Amt in einem Terreiro von Bahia, auserwählt von Iansà, der nigerianischen Göttin des Krieges und der Winde. Der französische Ethnologe Roger Bastide, der diese Kulte studiert hatte, war durch ein Dekret von Oxossi, dem Yoruba-Gott der Jäger, dazu auserwählt worden. Gegenüber sind die Plätze der Gäste, auf die uns der Pai-de-santo komplimen-tiert: der Babalorixà oder, wenn man so will, der Pfarrer in dieser Kirche. Ein imposanter Mischling, kahl und würdevoll. Er weiß, wer seine Gäste sind, er macht ein paar scherzhafte Bemerkungen über die Gefahr, daß wir rationalistischen Intellektuellen uns der Ungläubigkeit versündigen.
Doch in dieser Kirche, die mit so großer Liberalität die
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