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Über Gott und die Welt

Über Gott und die Welt

Titel: Über Gott und die Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Umberto Eco
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existiert, von dem die Kreatur sich gleichzeitig angezogen und abgestoßen fühlt. Es erzeugt ein Gefühl von Erschrecken, eine unwiderstehliche Faszination, ein Inferioritätsgefühl sowie ein Verlangen nach Sühne und Leiden.
    In den historischen Religionen hat dieses konfuse Gefühl die Form von mehr oder minder schrecklichen Gottheiten angenommen. In der nichtreligiösen Welt tritt es seit mindestens hundert Jahren in anderen Formen auf. Das Erschreckende und das Faszinierende haben darauf verzichtet, sich in die anthropomorphe Gestalt eines höchstvollendeten Wesens zu kleiden, um statt dessen die eines Nichts anzunehmen, vor dem all unser Streben zum Scheitern verurteilt ist.
    Eine Religiosität des Unbewußten, des Abgrunds, des Fehlens der Mitte, der Differenz, des Absolut Anderen, der Zerrissenheit durchzieht das moderne Denken als unterirdischer Kontrapunkt zu den Ungewißheiten der Fortschrittsideologien des 19.
    Jahrhunderts und dem Spiel der zyklischen Wirtschaftskrisen.
    Dieser verweltlichte und unendlich abwesende Gott begleitet das zeitgenössische Denken unter verschiedenen Namen und explodiert heute in der Renaissance der Psychoanalyse, in der Wiederentdeckung Nietzsches und Heideggers, in den neuen Anti-Metaphysiken der Abwesenheit und der Differenz.
    Während der Phase des politischen Optimismus war es zu einem klaren Bruch zwischen den zwei Denkungsarten des Heiligen gekommen – hier das Unerforschliche, dort die Ideologien der politischen Omnipotenz. Mit der Krise des marxistischen und des liberalen Optimismus hat die Religiosität des Nichts, von dem wir durchdrungen sind, nun auch das Denken der sogenannten Linken erfaßt.
    Wenn dem aber so ist, dann kam die Rückkehr des Heiligen lange vor jenem Syndrom des Verwaistseins, das die Enttäuschten befi el, als sie auf einmal voller Entsetzen entdeckten, daß die Chinesen weder unfehlbar noch vollkommen waren. Der »Verrat«
    der Chinesen war allenfalls der letzte (sehr äußerliche) Schlag für jene, die seit geraumer Zeit schon in dem Gefühl lebten, daß unter dem Boden der rationalen Wahrheiten, die von den Wissenschaften verkündet wurden (von der kapitalistischen wie der proletarischen), tiefe Risse und schwarze Löcher klafften.
    Ohne daß sie die Kraft aufbrachten, besagte Wissenschaften einer skeptischen, luziden Kritik zu unterziehen, mit Sinn für Humor und geringem Respekt vor der Autorität.
    Es wird sich lohnen, über diese neuen negativen Theologien, über die daraus resultierenden Liturgien und ihren Einfl uß auf das revolutionäre Denken in den nächsten Jahren ausgiebig nachzudenken. Zu prüfen, inwieweit auch sie für die Feuerbachsche Kritik (um nur eine zu nennen) empfänglich bleiben. Oder ob sich in diesen kulturellen Phänomenen womöglich ein neues Mittelalter abzeichnet, ein Mittelalter mit weltlichen Mystikern, die mehr zu mönchischem Rückzug neigen als zur Anteilnahme am kommunalen Leben. Wir werden zu prüfen haben, welches Gewicht – sei’s als Gegengift, sei’s als Kontrapunkt – die alten Techniken der Vernunft noch haben, die Künste des Triviums, die Logik, die Dialektik und die Rhetorik. Auf die Gefahr hin, daß, wer sie hartnäckig weiter betreibt, der Gottlosigkeit geziehen wird.
    (1979)
    Die Selbstmörder vom Tempel des Volkes
    Das Merkwürdigste an der Geschichte der Selbstmörder vom
    »Tempel des Volkes« ist die Reaktion der Medien, der amerikanischen wie der europäischen. »Ein unfaßbares Ereignis«, rufen sie im Chor, »eine unbegreifl iche Sache!« Es erscheint ihnen unbegreifl ich, daß einer, der jahrelang als gutartig galt wie der Sektengründer Jim Jones (alle, die in den letzten Jahren mit ihm zu tun gehabt hatten, egal ob sie seine carita-tiven Aktivitäten unterstützten oder ihn als Stimmenfänger bei Wahlen benutzten, sagten übereinstimmend, daß er ein selbstloser Prediger war, eine faszinierende Persönlichkeit, ein überzeugter Integrationsanhänger und ein guter Demokrat, wie man bei uns ein »guter Antifaschist« sagen würde) – daß so einer plötzlich überschnappen und sich in einen blutrünstigen Autokraten verwandeln kann, in eine Art Bokassa, der seinen Anhängern die Ersparnisse abnimmt, der sich dem Drogenkonsum verschreibt, der sich der hemmungslosesten Sexualität ergibt, ob Hetero- oder Homo-, und der die Ärmsten, die seiner Herrschaft dann zu entfl iehen versuchen, massakrieren läßt. Es erscheint unbegreifl ich, daß so viele gutgläubige Menschen ihm so

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