Ueber Gott und die Welt
verstanden und mache mich an einzelnen Phänomenen fest, die ich als Symptome für das Falsche des Ganzen nahm.
Ich konnte nur erwidern, dass ich letzten Endes eine Bewegung nur beurteilen könne aufgrund von Einzelheiten.Und wenn Leute angeblich den Willen des Volkes exekutieren wollen, aber überall dort, wo sie auftreten, das Volk zum Schweigen bringen, dann kann das nicht richtig sein.
Allerdings: Meine Freunde waren schon etwas avancierter als ich, sie waren auch älter als ich, und ich fühlte mich ideologisch in die Ecke gedrängt. Ich fühlte mich allein gegen die Gruppe argumentativ nicht genügend gewappnet. Daraufhin tat ich etwas, das ich im Rückblick als sehr vernünftig betrachte. Ich war der Überzeugung, dass momentane argumentative Überlegenheit kein Kriterium der Wahrheit ist. Es ist wie bei einem Gericht: Die Partei, die den geschickteren Anwalt hat, muss deshalb noch nicht die Partei sein, die recht hat.
Was tun? Ich entzog mich weiteren Diskussionen durch Flucht. Ich brach das Semester in der Mitte ab, fuhr nach Hause, nach Dorsten in Westfalen, hängte dort das Leninbild von der Wand ab, das mein Vater, ohne sich dagegen zu verwahren, hatte hängen lassen, obgleich wir nach der Zerstörung des Hauses nur noch einen gemeinsamen Arbeitsraum hatten.
Dann fing ich an, eifrig zu lesen: Marx, Engels, Lenin und sogar Stalin. Ich las auch die Schriften der Ordoliberalen, der Freiburger Schule, Röpke, Eucken und so weiter. Nun fühlte ich mich der Diskussion gewachsen. Dennoch kehrte ich nicht nach München zurück, weil ich inzwischen ein Stipendium für ein Jahr an der Universität von Fribourg in der Schweiz bekommen hatte.
»Ende und Anfang« wurde dann bald darauf von der amerikanischen Besatzungsmacht verboten, die Freunde gingen auseinander. Außer Ernst Schumacher versöhnten sich alle auf die Dauer mit dem liberalen Rechtsstaat, wie unterschiedlich auch ihre politischen Optionen innerhalb dieses Staates sein mochten.
Ich ging nach Fribourg, ließ Politik Politik sein und freute mich eines unbeschwerten, vergnügten Studentenlebens, in dem das Studieren doch keineswegs eine bloße Nebensache wurde.
Bestand da für Sie nicht eine erhebliche Kluft zwischen Ihren theologischen Interessen und den politisch doch weit links gelagerten Weltanschauungen im Umkreis der Zeitschrift »Ende und Anfang«?
Es ist schwer zu sagen, wie es möglich wurde, dass ich so verschiedene Interessen und auch Engagements verfolgte. Es waren sehr subjektive Impulse, über deren Integration ich kaum nachdachte. Damals verfügte ich noch nicht über die theoretischen Möglichkeiten, die große Kluft zwischen ihnen zu überbrücken und sie zusammenzudenken. Die subjektiven Perspektiven standen zunächst relativ unverbunden nebeneinander.
Erst allmählich sind sie zu einer einheitlichen Sicht der Wirklichkeit zusammengewachsen. Aber der Prozess ist bei mir noch nicht zu Ende. Ich glaube, das ist eine Aufgabe, vor der jeder Denkende letzten Endes steht und an der auch jeder Denkende irgendwann scheitert.
Scheitert derjenige, der sein Denken in ein System bringen will?
Ich glaube, das Denken strebt immer danach, sich zu einem System auszubilden, aber es scheitert auch immer mit diesem Streben. Wenn man es pathetisch ausdrücken will, dann besteht darin die tragische Situation der Philosophie.
Kant sagt einmal, dass die Vernunft durch Fragen bewegtwird, die sie nicht beantworten kann. Aber zu sagen: Dann lass mal von den Fragen ab – das geht ja auch nicht. Der Mensch würde seine Würde verlieren, wenn er darauf verzichtet, das Ganze zu denken.
Gerade im Politischen ist diese Haltung wichtig. Einem Lokomotivführer, der seinen Zug im Rahmen der Juden-Deportationen nach Auschwitz fährt und sich dabei auf sein Pflichtbewusstsein beruft, müsste man sagen, dass in seinem Fall das Pflichtbewusstsein völlig fehl am Platz ist. Man muss ihm zumuten, in gewisser Hinsicht das Ganze, das heißt den Kontext zu denken und sich zu fragen: Wen transportiere ich da eigentlich an welchen Ort? Das ist ein simpler moralischer und – bezogen auf die Vernichtungspläne des Dritten Reiches – politischer Gedanke, der natürlich noch weitere Fragen nach sich zieht.
Döderlein hatte damals, an die Hegel’sche Tradition anknüpfend, recht, als er darauf bestand, die Dinge nicht zu isolieren. Also doch nicht »Konkretismus«? Wir müssen unser Handeln im Zusammenhang des Ganzen betrachten. Aber was ist das Ganze? Wir überschauen
Weitere Kostenlose Bücher