Ueber Gott und die Welt
Hauptstück des zweiten Buches die Überschrift »Von dem Interesse der Vernunft bei diesem ihrem Widerstreite«. Um dieses Interesse der Vernunft ging es Ritter. Die Frage, die über den reinen Nachvollzug des Gedankenshinausgeht, will wissen, welche Funktion er für das Interesse der Vernunft hat. Marxisten fragen immer, welche Funktion eine Ideologie im Zusammenhang des Klassenkampfes hat. Auf welcher Seite steht sie?
In der Tat war Ritter vor 1933 für kurze Zeit Marxist, und meiner Ansicht nach spielte das in sein Denken nach dem Krieg noch hinein, nur inhaltlich war nicht mehr der Klassenkampf, sondern die Vernunft in »diesem ihrem Widerstreite« das Thema. Und das musste junge Menschen anziehen, die in der unmittelbaren Nachkriegszeit lebten, als alles in Frage gestellt schien und eine Offenheit und Meinungsvielfalt herrschte, wie wir sie uns in unseren Zeiten der »political correctness« gar nicht mehr vorstellen können.
Was Ritter bot, war eine politischere Hermeneutik, als sie von Hans-Georg Gadamer repräsentiert wurde. Den gesellschaftspolitischen Zusammenhang und den Grundimpetus zu verstehen, worum es sich in der sogenannten Entzweiung von Tradition und Modernität handelt, interessierte nach 1945 jeden, der nach Orientierung suchte.
Ritter sei vor 1933 Marxist gewesen, sagten Sie. Aber besaß sein Denken, das Sie nach dem Krieg in Münster so anziehend fanden, nicht eine große Affinität zur Philosophie Hegels?
Gewiss, aber Ritter war keineswegs ein Hegelianer im üblichen Sinne. Erstaunlicherweise fiel die spekulative Seite Hegels bei ihm weg. Wenn man bedenkt, dass er in seiner gesamten Lehrzeit niemals ein Seminar über dessen »Wissenschaft der Logik« gehalten und auch in Vorlesungen davon keinen Gebrauch gemacht hat, muss man sich fragen, was für einen Hegelianismus er eigentlich vertreten hat.
Denn die »Wissenschaft der Logik« ist ja das Kernstück der Hegel’schen Philosophie. Aber gerade sie interessierte ihnnicht. Was ihn an Hegel überzeugte, war vor allem das Zeitdiagnostische, die »Phänomenologie des Geistes«, die Vorlesungen über »Die Philosophie der Geschichte« und vor allem die Vorlesungen »Grundlegung der Philosophie des Rechts«. Dass er sich darauf konzentrierte, mag mit seiner marxistischen Phase vor 1933 zusammenhängen.
Von dieser Phase ist wenig bekannt. Ritter kannte Clara Zetkin; er war Mitglied der Gesellschaft für deutsch-sowjetische Freundschaft und noch nach der »Machtergreifung« durch die Nationalsozialisten einmal in konspirativer Mission in Holland.
Eine ganz andere Seite des Hegel’schen Philosophierens, unter dem Titel »Vorlesungen über die Ästhetik« postum veröffentlicht, spielte bei Ritter eine große Rolle. Seine Vorlesung im Wintersemester 1947/48 über Philosophische Ästhetik ist 2010 in der Buchreihe »marbacher schriften« erschienen, zusammen mit einem Gespräch zwischen dem Herausgeber und mir über Ritter.
Wie stark hat Ritters Hegelianismus Sie beeinflusst?
Ich glaube, damals war mir gar nicht bewusst, dass Ritter einen besonderen Hegelianismus vertrat. Was mich einnahm, war einmal seine geschichtsphilosophische Perspektive, wie sie später in dem 1957 veröffentlichten Büchlein »Hegel und die Französische Revolution« ausgeführt wurde. Das erschloss einen neuen, ganz ungewöhnlichen Zugang zu Hegel. Das kleine Werk wurde auch über Deutschland hinaus wahrgenommen.
Und dann überzeugten mich Ritters Ausführungen über das Verhältnis von Hegel zu Aristoteles. Der antike Denker erschien ihm wie ein Hegel avant la lettre. Tatsächlich gilt für mich auch heute noch der Abschnitt über Aristoteles in Hegels »Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie« alsbeste Einführung in das Denken des Aristoteles. Für Ritter selbst galt: Kein Hegel ohne Aristoteles, dann schon eher ein Aristoteles ohne Hegel.
Ich weiß nicht, ob man mit Bezug auf einen Philosophen, für den Hegels »Wissenschaft der Logik« eigentlich gar keine Rolle spielt, tatsächlich von Hegelianismus sprechen soll. Hegels Logik tritt mit dem Anspruch auf, dass in ihr der menschliche Geist zum endgültigen Verstehen seiner selbst und der Welt gekommen ist. Man kann sie nur lesen, wenn man sich diesem Anspruch auf irgendeine Weise stellt. Ihr gegenüber ist die Frage »Was bedeutet das?« im Sinne Ritters unmöglich geworden. Ihr Anspruch ist es, zu erklären, was es bedeutet, dass etwas etwas bedeutet. Sie tritt auf mit dem Anspruch, den Menschen zum
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