Ueber Gott und die Welt
Verstehen seiner selbst zu führen. Und am Ende, wenn dann – wie Heinrich von Kleist in seinem »Marionettentheater« schreibt – das Bewusstsein »durch ein Unendliches gegangen« ist, stellt sich eine neue Unmittelbarkeit wieder her.
Das europäische Denken verfügt nach Ritters Sicht über einen Schlüssel zur Lösung des Problems der Entzweiung von Tradition und Moderne, und dies deshalb, weil die europäische Tradition selbst schon das emanzipatorische Moment enthält. Das war es, was Ritter »predigte«. Und das war es, was wir von ihm lernten.
International berühmt wurde Ritter hauptsächlich durch sein Büchlein »Hegel und die Französische Revolution«. Was die Französische Revolution heraufführte, musste, so Hegel, heraufgeführt werden. Aber das Selbstverständnis der Revolutionäre war gleichwohl ein Missverständnis. Hegel zeigt in der »Phänomenologie des Geistes« die Dialektik der totalen subjektiven Freiheit. Ihr Werk ist Terror und Tod. Und zwar auch der Tod der Revolutionäre. Die Revolution fraß ihre Kinder. Aber für Ritter änderte dies nichts daran, dass das objektiveResultat der Revolution in den freiheitlichen Institutionen des bürgerlichen Rechtsstaats bestand.
Damit ist nach Ritters Auffassung die Menschheit prinzipiell am Ziel angelangt. Ich weiß nicht, ob Ritter die Pariser Hegel-Vorlesungen von Alexandre Kojève zur Kenntnis genommen hat, für den Napoleon das Ende der Weltgeschichte bedeutete. Fukuyama hat später die These vom Ende der Weltgeschichte vertreten, die Ritter nicht mehr zur Kenntnis nehmen konnte. Ich habe Kojève nicht glauben können, und Fukuyama auch nicht. Aber was Ritter lehrte, was er an Bleibendem lehrte, waren nicht Antworten, sondern ein tieferes Verständnis der Frage. Reinhart Maurer hat in seiner Dissertation über Hegel »Hegel und das Ende der Geschichte« einen wichtigen Schritt zu dieser Vertiefung getan.
War Joachim Ritter eher ein Kritiker oder mehr ein Apologet der Neuzeit?
Er war vor allem ein Apologet der »Entzweiung«. Diesen Begriff hatte er von Hegel übernommen. Für Ritter gehört es offenbar zur Eigentümlichkeit des menschlichen Geistes, sich in sich selbst zu spalten. Er kann das, was er eigentlich ist, nur voll entfalten, wenn er diese Spannung in sich aushält, die Spannung zwischen einem Unvordenklichen, Immer-Wahren, Immer-Gültigen und der Freiheit des Subjekts.
Dieser Voraussetzung folgend versuchte Ritter die Entzweiung von Tradition und Fortschritt zwar anzuerkennen, aber nicht beide gegeneinander auszuspielen. Er wollte zeigen, dass der Gedanke der Freiheit, der Emanzipation des Subjekts im europäischen Denken von Anfang an angelegt ist und nicht als neuzeitliche Entgegensetzung zur Tradition aufzufassen sei. Die europäische Tradition unterscheide sich von der anderer Kulturen. Zu ihr gehöre eine globale Vision der Befreiung des Menschen. Die Emanzipationsgeschichte entsprecheder Entfaltung von etwas, das von Anfang angelegt sei. Auf die Frage, ob die Philosophie auf der Seite der Tradition oder des Fortschritts zu stehen habe, hätte Ritter geantwortet: Auf keiner von beiden – oder: auf beiden.
Wie hielt es Joachim Ritter mit der Tradition der Philosophie?
Die Lehrstühle, an denen thomistische Philosophie gelehrt wurde, verkörperten für ihn diese Tradition. Er hat zwar nie ein Sachproblem diskutiert, das an diesen Lehrstühlen behandelt wurde, aber er fand es von größter Bedeutung, dass an der Universität über Scholastik gelehrt wurde und dass Kenntnisse in diesen Bereich für notwendig gehalten wurden. Er hatte ja eine Habilitationsarbeit über ein Thema von Augustinus geschrieben. Mit seinem Kollegen Josef Pieper hielt er kontinuierlichen freundschaftlichen Kontakt.
Er schätzte dessen Art, das Denken des Thomas von Aquin einem gebildeten Publikum auszulegen und dessen Aktualität plausibel zu machen. Beide diskutierten auch Sachprobleme, soweit Pieper eine Brücke von Thomas zur Gegenwart zu schlagen bereit war.
Nach seiner Gastprofessur in Istanbul von 1953 bis 1955 wurde Ritters Einstellung zum Gedanken der Emanzipation und des Fortschritts zunehmend affirmativer. Seine beiden Schüler Hermann Lübbe und Odo Marquard haben das aufgenommen und sich noch eindeutiger für die Sache der Moderne verwendet. Metaphysische Grundfragen, die ihren Lehrer noch bewegten, haben sie stillschweigend ausgeblendet.
Leo Strauss und Joachim Ritter haben beide bei Ernst Cassirer promoviert. Dennoch nahmen sie
Weitere Kostenlose Bücher