Ueber Gott und die Welt
recht kontroverse Positionen ein. Strauss hätte Ritter sicher Historismus vorgehalten. Wie sehen Sie das?
Zunächst: Es ist nicht von ungefähr, dass Ritter von Cassirer ausgegangen ist. Das wird im Allgemeinen zu wenig beachtet. Die Kritik am Historismus, die Leo Strauss in dem Buch »Naturrecht und Geschichte« vornimmt, mag in gewisser Hinsicht auf Joachim Ritter zutreffen.
Damals, als das Buch 1956 erschien, habe ich es mit großer Faszination gelesen. Diese Art zu denken, die Strauss eigen ist, wirkte auf mich wie eine Offenbarung. Aber auch Ritter nahm das Buch mit großem Interesse zur Kenntnis, und ich glaube, man kann nicht sagen, dass das Strauss’sche Denken dem Ritter’schen völlig entgegengesetzt sei.
Denn Ritter verstand sich keineswegs als Historist. Er wollte vielmehr das philosophische Denken in einem geschichtlichen Zusammenhang sehen. Geschichtlicher Zusammenhang bedeutete für ihn dabei nicht Relativismus, sondern er meinte damit den Horizont, in dem sich das Sein selbst zeigt.
Hier spielt ein Heidegger’sches Moment hinein. Martin Heidegger hat wohl am konsequentesten versucht, den Historismus zu radikalisieren und gleichzeitig in einer höheren Form von Metaphysik aufzuheben. Dieser Grundgedanke Heideggers war auch Leo Strauss nicht fremd.
Was hat Joachim Ritter bei seinem Türkei-Aufenthalt so beeindruckt, dass er sein Interesse mehr auf die Seite des Fortschritts verlagerte?
Der Fortschrittsoptimismus der Kemalisten. Dabei hat er immer wieder darüber nachgedacht, was Tradition in einem Land wie der Türkei eigentlich bedeutet. Denn der freiheitliche Impetus, den die Tradition in Europa von Anfang an in sich hatte, konnte dort nicht vorausgesetzt werden. Damit war es für den Fall der Türkei auch nicht möglich, die Entzweiung von Tradition und Fortschritt in einem sinnvollenGanzen zu integrieren. Muss man darum eines von beidem, entweder die Tradition oder den Fortschritt, eliminieren? Ist ein Kampf auf Leben und Tod zwischen Imam und republikanischem Funktionär überhaupt vermeidbar? Ritter neigte zur Bejahung des positivistischen Programms der kemalistischen Republik. Damit einher ging eine Neuorientierung. Als er 1955 wieder in Münster lehrte, war er zu einem affirmativen Fortschrittstheoretiker geworden.
Im Jahr 1949 wurde die Bundesrepublik gegründet. Wie war damals Ihre politische Einstellung?
Kurz davor hatte ich meine marxistische Phase durchlaufen. Ich glaubte eine Zeit lang an den »Historischen Materialismus« und habe ernstlich erwogen, ob man Geschichte nicht besser verstehen kann, wenn man sie vor dem Hintergrund von sozialen Prozessen begreift und die sozialen Prozesse wiederum als Resultat von Klassenkonflikten. Es war vor allem eine Sache der Lektüre. Ich habe Marx gelesen, Lenin, sogar Stalin.
Bei den Bänden »Das Kapital« ermüdete ich ziemlich schnell. Aber das »Kommunistische Manifest« finde ich nach wie vor eine eindrucksvolle Schrift. Was Karl Marx betrifft, so vertrat er eine Gerechtigkeitstheorie, die dann eigentlich auch schnell meine Abkehr vom Marxismus bewirkte. Nach ihr sind alle Vorstellungen von Gerechtigkeit ideologisch und klassenbedingt. Es gibt nur eines, was den Widerspruch zwischen ihnen aufhebt: die Herstellung einer Gesellschaft des Überflusses. Denn in ihr gibt es keine Verteilungsprobleme mehr. Alle politischen Probleme lösen sich dann von selbst. Das hielt ich für wirklichkeitsfremd.
Merkwürdigerweise habe ich meine religiösen Überzeugungen mit dem Interesse am »Historischen Materialismus« gar nicht in Verbindung gebracht. Beides lief unvermittelt nebeneinander her.
1949 sympathisierte ich mit einer linken Version der CDU. Der Gedanke des »Christlichen Sozialismus« leuchtete mir ein. Und der Politiker Karl Arnold, ab 1947 Ministerpräsident des neugegründeten Bundeslandes Nordrhein-Westfalen, imponierte mir. Mit dem Publizisten Walter Dirks befreundete ich mich und galt dann für eine längere Zeit als »Linkskatholik«. Das Wort passt allerdings deshalb nicht, weil ich für eine modernistische Theologie so wenig übrig hatte wie für eine demokratisierte Kirche. Die Kirche ist eine Stiftung. Stiftungen sind nichts Demokratisches. Ein Orthodoxer kann links, aber kein »Linkskatholik« sein.
Was war denn zu dieser Zeit – Ende der vierziger Jahre – Ihre Hauptlektüre?
Kontinuierlich begleitete mich die Beschäftigung mit den Werken des Thomas von Aquin, mit der »Summa contra gentiles«, der »Summa
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