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Über jeden Verdacht erhaben

Über jeden Verdacht erhaben

Titel: Über jeden Verdacht erhaben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jan Guillou
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Etwas stimmte hier nicht, soviel war ihm klar.
    »Aha«, sagte er leichthin, »und wer sind ihre nächsten Angehörigen?«
    Es wurde still im Zimmer. Es war ein Schweigen, das nicht weichen wollte.
    Wallander blickte hoch. Er machte ein fragendes und unsicheres Gesicht, als er von einem zum anderen blickte, während er seinen Kugelschreiber hochhielt.
    »Wissen Sie das wirklich nicht?« fragte die Gastgeberin und riß die Augen auf. Jetzt sah sie zum ersten Mal erschüttert aus.
    »Nein«, entgegnete Wallander mürrisch, »das weiß ich nicht. Aber Sie wissen es offenbar?«
    »Hamilton«, sagte die Gastgeberin.
    Alle Anwesenden blickten Wallander starr an und bestätigten mit den Blicken, was er soeben gehört hatte.
    »Jaaa…«, sagte er unsicher und machte mit dem Kugelschreiber eine vielsagende Geste. »Das kann man sich ja schon denken, aber wenn Sie die Angabe vielleicht präzisieren könnten?«
    »Hamilton«, wiederholte die Gastgeberin. »Carl Gustav Hamilton, der neue Chef der Sicherheitspolizei. Estelle war seine Mutter.«
    Erik Ponti hörte die Meldung im Autoradio, als er zur Arbeit fuhr. Seine ersten Gedanken drehten sich ausschließlich um praktische Dinge. Sein bestens geplanter Arbeitstag würde chaotisch verlaufen, und er würde Unmengen von Zeit anderen Dingen widmen müssen als denen, die er sich vorgenommen hatte, und außerdem würde er eine besonders lange und geschwätzige Konferenz zu Beginn des Arbeitstages absitzen müssen. Folglich würde die schlechte Laune nicht lange auf sich warten lassen. Beim Echo des Tages hatte nämlich ein neuer Chef seinen Dienst angetreten, ein moderner schwedischer Vorgesetzter mit Krawatte und Jackett, der von außerhalb kam und folglich den Job nicht beherrschte. Folglich hielt er lange Konferenzen ab, bei denen er vorwiegend selbst redete, während die Mitarbeiter sich drehten und wanden und auf die Uhr sahen und das Gefühl hatten, als wären sie auf dem Weg zu einer Direktsendung irgendwo mit der U-Bahn steckengeblieben. Der frühere Chef hatte sich aus dem Staub gemacht und war zum Fernsehen gegangen, obwohl er ständig versichert hatte, er habe keinerlei Pläne in dieser Richtung. Doch Erik Ponti hatte darauf gesetzt und bei einer Wette tausend Kronen gewonnen. Diese Leute, die zum Fernsehen wollten, um dort ihre »Kommentare« zu allem und jedem abzugeben, waren leicht zu erkennen.
    Etwa in solchen Bahnen verliefen seine ersten Gedanken. Als er vor dem Gebäude von Sveriges Radio parkte und nach Münzen für den Parkautomaten suchte, durchdrang die Nachricht schließlich seinen beruflichen Schutzpanzer, so daß sein Denken auch die eigentliche Tragödie streifte. Hamiltons Mutter war also ermordet worden. Erst seine frühere Frau und Tochter, im vorigen Sommer. Dann jetzt, in diesem Sommer, seine zweite Frau und sein Sohn. Und gestern seine Mutter.
    Er versuchte kurz, sich Hamiltons Situation im Augenblick vorzustellen, wischte die jedoch im doppelten Sinn hoffnungslose Phantasie schnell beiseite und kehrte zu dem Konkreten zurück; er war nun einmal so. Er war seit dreißig Jahren Reporter, und wenn er jetzt von einem Erdbeben in Kalifornien hörte, dachte er nicht zuerst an Tausende toter Menschen, sondern daran, was die neun Stunden Zeitunterschied rein praktisch für den örtlichen Rundfunkkorrespondenten bedeuteten. Dann überlegte Ponti, ob der Mann schon seinen Beitrag fertig hatte und wann dieser gesendet werden konnte.
    Wenn Hamilton selbst ermordet worden wäre, hätte es die Sendung des Tages wirklich durcheinandergewirbelt, doch Gott sei Dank ist es nur seine Mutter, dachte Erik Ponti, als er im Korridor auf sein Zimmer zuging. Auf dem Schreibtisch lag der Zettel, den er dort erwartet hatte. Er nahm ihn an sich, zog den Mantel aus und tat, wozu ihn der Zettel aufforderte – er begab sich zum Konferenzraum.
    Als er zu den anderen Angehörigen der Führungsgruppe in den Raum trat, zur Begrüßung mit dem Kopf nickte und sich setzte, stellte er fest, daß es in etwa so traurig aussah, wie er es sich vorgestellt hatte. Der neue Chef war gerade dabei zu erklären, wie wichtig es sei, daß das Echo des Tages bei der Berichterstattung über die gestrige Volksabstimmung gute Arbeit leiste. Die Zuhörer erwarteten nicht nur, das Ergebnis zu erfahren, das ihnen vermutlich schon bekannt sei, erklärte der neue Mann. Die Hörer wollten auch Kommentare, nicht nur von der siegreichen Ja-Seite, sondern vielleicht ebensosehr von den Verlierern, der

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