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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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Ahnung hatten. Nach einigen überfallartigen Besuchen im Morgengrauen, bei denen sie das ganze Haus nach links wendeten wie einen abgetragenen Mantel, jede Schublade durchstöberten, jede Zwischen decke, jeden Spalt ausleuchteten, hatte sich jedenfalls niemand mehr sehen lassen.
    Mit der Verhaftung wurde alles anders. Emilias Erleichterung zu wissen, wo sich ihr Sohn aufhielt, war nur von kurzer Dauer. Und verschwand endgültig, als sie und Paolo über die Hauptanklagepunkte unterrichtet wurden: drei Morde, wie Hinrichtungen ausgeführt, dazu einige bewaffnete Raubüberfälle und unzählige kleinere Delikte.
    Im Nachhinein war Paolo völlig klar: Es war dieser Zeitpunkt, als Emilia zu sterben begann.
    Ihr Sohn kam in Isolationshaft. Über Tage. Wochen. Monate. Nur während der Verhöre konnte er noch mit jemandem reden. Als er endlich wieder zu anderen Menschen in eine Zelle gesteckt wurde und zu Hause anrufen durfte, nuschelte er wie ein Greis. Seine Zunge hatte das Zusammenspiel mit Zähnen und Gaumen ver lernt. Paolo, am anderen Ende der Leitung, verstand kaum, was er sagte. Emilia gelang es etwas besser, aber dennoch wurde es nur ein kurzes Gespräch.
    Nach den Vorschriften betrug die Dauer eines Anrufs genau eine Telefonmünze. Hörte man, wie die Münze klimpernd in den metallenen Bauch des Gerätes fiel, blieben nur noch wenige Sekunden, um sich zu verabschieden. Die Eile, die dadurch gegen Ende der Gesprä che mit ihrem Sohn beim Abschiednehmen entstand, hatte für Paolo immer etwas Beklemmendes. Fast wäre er versucht gewesen, so ein Gespräch gleich mit einem »Ciao, mach’s gut, wir sprechen uns bald wieder« zu beginnen und auf diese Weise die Sorge, sich zum Schluss nicht mehr richtig verabschieden zu können, schon mal los zu sein. Aber so weit ging er nie.
    Bei jenem ersten Anruf nach monatelanger Isolation war das Letzte, was ihr Sohn, fast gleichzeitig mit dem Fallen der Telefonmünze, sagte:
    Â»Kommt mich besuchen. Bitte.«
    Danach war da nur noch das Brummen der abgebrochenen Verbindung.
    Den ersten Besuch machten Paolo und Emilia gemeinsam. Ihr Sohn saß noch nicht in einem Hochsicherheitsgefängnis, die wurden erst später eingerichtet. In dem Besuchsraum trennte sie daher nur ein großer Tisch von ihm. Ein Wachmann passte auf, dass der Häftling und sein Besuch sich nicht berührten, doch wenn Paolo seine Hand ausstreckte, spürte er die Wärme dieses Körpers, der ihm so vertraut war, obwohl er unbegreifliche Dinge getan hatte: Diese Hände hatten Waffen umfasst, diese Finger Abzüge betätigt, mit diesen Augen – von der Farbe saftiger Wiesen wie schon in Kindertagen – hatte er Menschen aufs Korn genommen. Als Emilia ihren Sohn durch die Tür am anderen Ende des großen Raumes hereinkommen sah, stiegen ihr Tränen in die Augen. Und so lange ihr Besuch dauerte, hörte sie nicht mehr zu weinen auf. Es war ein leises Weinen, ohne Schluchzen oder Stöhnen, nur ein unaufhörliches Strömen von Wasser aus ihren Augen. Die Schleusen des Himmels , kam es Paolo in den Sinn: Seine Frau weinte wie eine göttliche Überschwemmung. So als wolle sie jegliche Körperflüssigkeit, die in ihr war, ausscheiden, als wolle sie vertrocknen, zu einer Mumie schrumpfen.
    Anzusehen war ihr das nicht. Emilias Körper verließ diesen ersten Besuchsraum genauso, wie sie Platz genommen hatte. Alles übrige jedoch dorrte vollkommen aus. Ähnlich einem Insekt, das von Bakterien verschlungen wird und von dem schließlich nur die Keratinhülle übrig bleibt.
    Als Paolo erfahren hatte, dass sie ihren Sohn zum ersten Mal nach langer Zeit (sein letzter kurzer Einfall ins Elternhaus lag mittlerweile schon zwei Jahre zu rück) wiedersehen würden, nahm er sich vor, ihm all die Fragen zu stellen, die ihm vor, hauptsächlich aber nach der Verhaftung den Schlaf geraubt hatten. Besonders als die Anklageschrift formuliert und sie über die einzelnen Punkte informiert wurden. Zuvor hatte er schon das Foto gesehen, das alle Tageszeitungen des Landes auf der ersten Seite brachten, das Foto von dem Mann, der in seiner Blutlache auf dem Gehweg lag, die geöff neten Handflächen zur Brust geführt wie ein Muslim im Gebet. Und das Foto von dem kleinen Mädchen in dem Mäntelchen auf der Beerdigung seines Vaters. Und das von dem Wachmann vor der Bank, die Brust durchsiebt von der dunklen Linie einer

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