Ueber Meereshoehe
wahrzunehmen.
Er erinnerte sich noch gut an seine Erschütterung nach den ersten Tagen. Damals hatte er beschlossen, seinen Wehrdienst bei der Strafvollzugspolizei abzuleisten, denn bei der Musterung war ihm versprochen worden, dass er dabei mit den Häftlingen gar nicht in Berührung käme. Das sollte wohl ein Witz sein. Die Grundausbildung bestand aus achtstündigen Gewaltmärschen in glühender Hitze â eine unverzicht bare Voraussetzung für die Arbeit im Gefängnisalltag. Dann, am ersten Tag im Dienst, ab in die Zellen, von Angesicht zu Angesicht mit den Kriminellen.
Das Schwierigste war anfangs das Abzählen bei der Wachablösung. Abzulösende Wache, ablösende Wache und ein Vorgesetzter betraten die Zelle und zähl ten die Häftlinge. Eizwedrevier-füsesiacht-neuzelzwölf- dreizevierzefünze: Er hatte damals Mühe, mit der zungenbrecherischen Geschwindigkeit seiner zählenden Kollegen mitzuhalten. Seine Aufgabe bestand darin, aufzupassen, dass niemand vergessen wurde, und auf einer Liste nachzuprüfen, wo sich die Abwesenden aufhielten: bei der Essensausgabe, in der Krankenstation oder auf der Weide beim Kühehüten. Kurzum, dass sie nicht abgehauen waren. Die Zählung nachts um drei Uhr geschah nicht durch den Spion. Da musste man jede einzelne Zelle betreten und nachschauen, ob es sich bei den Umrissen auf den Betten um echte Menschen oder um Puppen handelte. Um festzustellen, ob Nitti auch wirklich bei der Sache war, zählten die älteren Aufseher manchmal einen der liegenden Körper zweimal. Korrigierte er sie dann nicht, musste er bei der folgenden Wachablösung für einen fehlenden Häftling geradestehen. Die Botschaft war eindeutig: Um keinen Preis durfte man sich von der Aufgabe ablenken lassen.
Und er lieà sich nicht ablenken, konzentrierte sich, und wenn er dann nach Hause ging, saà ihm immer noch die Angst, einen Fehler gemacht zu machen, in den Knochen. Aber mit der Zeit wurde er gelassener und selbstsicherer. Die Erfahrung brachte es mit sich, dass er irgendwann genau wusste, dass sich dieser Häftling zu einer bestimmten Uhrzeit da aufhielt und jener dort. Und er lernte auch, so ungeheuer schnell wie die anderen zu zählen, dass sein Mund die Ziffern ausspuckte wie eine Häckselmaschine Späne.
Und sonntags in der Kapelle beugte er das Haupt und stimmte in den Chor der Kollegen und des Kaplans ein, und gemeinsam beteten sie:
Aus dem grauen Dasein des Kerkers, in dem jene ihre Schuld verbüÃen, die gegen die Gesetze der Menschen verstoÃen haben, beten wir zu dir, o Herr: Lass unseren Geist alle Mauern überwinden und zu dir gelangen, damit unser Glaube gestärkt werde und wir zuverlässig unsere Pflichten erfüllen können. O Muttergottes, schenke uns Barmherzigkeit mit denen, die leiden, damit in uns versöhnt werde die Liebe zum Nächsten und die Notwendigkeit der Pflichterfüllung. O Heiliger Basilides, gib uns die Kraft, unseren Dienst zu tun, für unser Land, unsere Abteilungen, unsere Familien und die Brüder, die uns anvertraut sind. Segne uns, o Herr!
Von der Fähre aus hatte Nitti den Neuankömmling zu den Aufnahmeformalitäten in die Zentrale gebracht. Dort gab man ihm eine Nummer und nahm ihm die Fingerabdrücke ab, alle persönlichen Gegenstände und Kleider musste er abgeben. Nun war der Mann gerade dabei, hinter einem Sichtschutz die Gefängnis uniform anzuziehen. Als er in diesem unförmigen Schlafanzug in der Farbe von Eselskot wieder dahinter hervortrat, hatte er endgültig die Verwandlung vollzogen zu dem, wofür die Wärter, in der trügerischen Annahme, die Häftlinge wüssten nichts davon, einen bestimmten Namen hatten. Dies war jetzt kein Mensch mehr, kein Staatsbürger und ein Strafgefangener nur noch für die Verwaltung. Für Nitti Pierfrancesco wie für alle seine Kollegen war er von nun an, seiner hellbraunen Uniform wegen, nichts weiter als eine Gämse .
Heute hatte Nitti nur diesen einen Pädophilen â oder Vergewaltiger oder so etwas in der Art â zu der AuÃen stelle zu bringen, der er zugewiesen war; mehr neue Gämsen waren heute ja nicht gekommen. Er saà jetzt neben ihm auf der Rückbank des Jeeps, während der Fahrer krachend die Gänge ins Getriebe knallte und den Wagen mit weit ausholenden Armbewegungen durch die Kehren der SchotterstraÃe lenkte.
»Was rast du denn so?«, beschwerte
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