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Ueber Meereshoehe

Ueber Meereshoehe

Titel: Ueber Meereshoehe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Francesca Melandri
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schwierig genug, auch ohne sich noch weitere Komplikationen aufzuladen.
    Der Mann hingegen war sitzen geblieben und hatte auf die Scheibe gestarrt, bis sein Sohn in der braunen Gefängniskleidung, die den Glanz seiner Jugend trübte, den Raum auf der Seite der Häftlinge verlassen hatte. So verhielten sie sich alle, die Eltern, die hierherkamen, sogen das Bild ihrer inhaftierten Kinder ganz, bis zum letzten Tropfen, in sich auf.
    Camba begleitete die beiden Besucher zum Transporter. Das Fahrzeug wartete jenseits des himmelblauen Tores vor der anmutigen Gefängnisfassade, die Angehörige von Häftlingen in Hochsicherheitsverwah rung mit gutem Grund für eine perfide Verspottung halten mochten. Am grauen Horizont hatte es zu blitzen begonnen. Aber so lautlos, als schlucke das Dunkel der Wolken nicht nur die Farben der Welt, sondern auch das Donnern in der Ferne.
    Â»Jetzt aber los, die Fähre wartet nicht«, sagte Camba zu dem Fahrer, der rauchend neben dem Wagen stand und den Himmel betrachtete.
    Â»Die schaffen wir noch«, antwortete er. Noch ein langer, letzter Zug, der seine Backen höhlte, dann warf er die Kippe zu Boden. Während er hinters Lenkrad kletterte, brummte er, mehr zu sich selbst: »… wie die Fernfahrer sagten, als sie die Nutte am Straßenrand sahen.«
    Paolo und Luisa zogen die Köpfe ein und stiegen in den Transporter, während der Fahrer schon den Zünds chlüssel umdrehte. Das Aufheulen des Motors übertönte das Donnern in der Ferne. Er legte den Rückwärtsgang ein und wandte mit einer geschmeidigen Bewegung den Kopf – wäre doch zu schade gewesen, die Rosen- und Weißdornbeete zu ramponieren, die so sorgfältig gepflegt wurden von Häftlingen, die es besser als die dort drinnen hatten. Dann schlug er in die andere Richtung ein, gab Gas und hielt bald schon in hohem Tempo, das niedrige Gebäude rasch hinter sich lassend, auf den nördlichsten Punkt der Insel zu, wo die Fähre darauf wartete, die Besucher sicher zur großen Insel zu bringen, bevor der Sturm losbrach.
    Paolo und Luisa schauten hinaus, schweigend, er in die eine, sie in die andere Richtung, während sie durch die Schlaglöcher schaukelten. Die Straße führte jetzt an einem schmalen Sandstreifen entlang, der das Meer von einem See mit stehendem schwärzlichem Wasser trennte. Ein weißer Esel, an dem sie vorüberkamen, blickte auf und begann neben ihnen herzugaloppieren. Einige Sekunden hatte Luisa den weißen Kopf unmittelbar neben sich vor dem Wagenfenster. Die Miene des Tieres wirkte so ernst und bemüht wie die eines Schülers, der am ersten Schultag nicht schon zu spät zum Unterricht kommen will. Als der Transporter ihn zurückließ, drehte Luisa den Kopf, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Kurz deutete sie auch, an Paolo gewandt, ein Nicken an, wie um »Schauen Sie mal!« zu sagen, doch er hielt den Blick starr auf die Küstenlinie gerichtet und bemerkte es nicht.
    Unterdessen war der Esel stehen geblieben, verharrte jetzt reglos auf dem Schotterweg und schaute mit sanften Augen dem Transporter nach, der sich entfernte. Erneut suchte Luisa Paolos Blick. Sie bedauerte es, dass er die Szene verpasst hatte.
    Unterdessen hatte der Wind weiter aufgefrischt. Das düstere Meer warf sich mit immer größerer Gewalt gegen die Klippen. Bei manchen Wellen spritzte die Gischt so hoch, dass sie fast ihren Wagen erreichte. Paolo hatte zwar die Augen geöffnet, sah jedoch nichts. Weder das Meer noch den Himmel.
    Der neue Häftling war ihm nicht geheuer, doch Nitti Pierfrancesco hätte nicht sagen können, was es war. Vielleicht das Schweigen, in das er sich hüllte, kompakt und ohne Risse wie ein Kieselstein am Meer? Nein. Keinem Gefangenen, der neu auf die Insel kam, war danach, sich zu unterhalten. Der ausweichende Blick? Auch das nicht. Menschen, die es wagten, sich mit offenen Augen dem Urteil anderer auszusetzen, waren überhaupt selten, besonders unter Pädophilen … Dann vielleicht die Art, wie er dasaß, zusammengepresst wie eine Sprungfeder, die jeden Moment hochgehen konnte? Ach, welch eine Sensation! Männer, die vor Anspannung, Wut und Angst bebten, hatte Nitti jeden Tag vor sich, Urlaub ausgenommen. Nein, es war nichts von alldem. Aber irgendetwas war da. Ganz bestimmt. Man überstand nicht mehr als zehn Jahre im Strafvollzug, wenn man nicht in der Lage war, gewisse vage Signale

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