Ueber Meereshoehe
einen kahlen Feigenbaum. Auf die hintere Wand zeichnete das Tageslicht die Schatten der Ãste, die von denen der Gitterstäbe durchschnitten wurden. Sieben waagerechte und fünf senkrechte, das bedeutete fünfunddreiÃig Lichtquadrate, die die rechten Winkel bildeten.
»Sie können die Schuhe wieder anziehen«, sagte die Aufseherin und blies Luisa dabei, ohne böse Absicht, ihren schlechten Atem ins Gesicht.
Sie gehorchte, griff zu ihrer Tasche und verlieà den Raum.
Durch einen kurzen Flur gelangte sie zum Eingang des Besucherzimmers. Näher als an diesem Punkt konnte ein AuÃenstehender dem eigentlichen Hochsicherheitstrakt nicht kommen. Zu Luisas Linken befanden sich, eine hinter der anderen, drei vergitterte Türen, jenseits derer sich nur noch Gefangene und ihre Wärter aufhielten.
Die anderen Haftanstalten, die Luisa besucht hatte, die sogenannten normalen Gefängnisse, verfügten über einen unverwechselbaren Klang. Eine Mischung von Musik und Stimmen aus Radios oder Fernsehgeräten, von zwischen den Zellen hin und her gerufenen Sätzen, schweren Schritten und dem Rasseln von Schlüs selbunden, dem Widerhall von Türen, die zugeschlagenen wurden oder deren Schlösser sich öffneten. Es war eine immer gleiche Kakofonie, eine Art kollekti ver Atem eines lebendigen Gefängnisalltags. Nun erst, da sie so weit vorgedrungen war, wurde Luisa in vollem Umfang bewusst, dass dieses Gefängnis wirklich ganz anders war. Man hörte keine Radios (verboten), keine Fernseher (die wurden nur abends für höchstens zwei Stunden angestellt, aber auch nur für Häftlinge, die sich tadellos geführt hatten), vor allem keine Rufe zwischen den Zellen, keine Stimmen, die sonst die Fäden bildeten, aus denen ein Tag im Gefängnis gewebt war und die ihn, wenn schon nicht erträglich, doch immerhin menschlich machten. Hier waren Zurufe verboten. Um miteinander zu kommunizieren, wurden Informationen in Rohrleitungen geflüstert, während ein Zellennachbar am Guckloch aufpasste. Oder man projizierte, wie im chinesischen Schattentheater, mit der Deckenlampe Buchstaben auf die Flurwände, einen nach dem anderen: Da brauchte man für einen Satz aus drei Worten schon eine halbe Stunde. Das alles wusste Luisa jedoch nicht. Sie nahm in diesem Sondergefängnis nur die Stille wahr, undurchdringlich und bedrohlich wie der Atem eines Raubtiers.
Der Aufseherin folgend, betrat sie den Besucherraum.
MAESTRALE
W enigstens wissen wir jetzt, wo er ist«, hatte Emilia gesagt, als ihr Sohn verhaftet wurde.
Und Paolo dachte bei sich, dass seine Frau sich wieder einmal als die Stärkere von ihnen beiden erwies, nüchterner, widerstandsfähiger. Es war eine Ãberzeugung, die bald schon über den Haufen geworfen wurde, so wie alles andere in seinem Leben auch. Sehr bald. Genauer, in dem Moment, als man ihnen mitteilte, wessen ihr Sohn angeklagt wurde.
Seit Jahren schon wussten Paolo und Emilia nicht mehr, wo er sich aufhielt und was er tat. Sie ahnten es, das schon: aber ganz vage, ohne Einzelheiten. Wie eine scheue Schnecke die Hörner zogen sie ihre Gedanken vor allzu klaren Bildern von Waffen und Gewalt zurück. Hin und wieder kam ihr Sohn sie besuchen, häufig um einen Feiertag herum, doch nie genau an diesem Tag, also etwa am 22. Dezember oder vier Tage nach dem Geburtstag seines Vaters oder seiner Mutter. Ohne Vorankündigung tauchte er auf, immer schön, aber abgemagert, in einem unauffälligen Anzug, in dem er wie ein Buchhalter aussah, ein Eindruck, den er nicht lange zuvor noch um jeden Preis hätte vermeiden wollen. Diese Verkleidung vor allem war es, die seinen Eltern eine Vorstellung davon gab, was mit »Leben im Untergrund« gemeint war. Er be grüÃte sie mit einem Kuss auf den Hals der Mutter und einer männlichen Umarmung für den Vater, schaufelte mit der Gier eines Löwenbabys die Gerichte seiner Kindheit in sich hinein und verschwand dann wieder, monatelang. Nach solchen Besuchen blieben Paolo und Emilia noch lange am Küchentisch sitzen, seine Hand auf der ihren, reglos, schweigend. Sie machten kein Licht, auch wenn es drauÃen schon längst dunkel geworden war.
Sogar die Polizei oder die Untersuchungsrichter oder der Staat oder wer verdammt noch mal solche Entscheidungen traf, musste irgendwann zu dem Schluss gelangt sein, dass diese beiden wohlerzoge nen Menschen vom Treiben ihres Sohnes wirklich keine
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