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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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darf man auf keinen Fall restaurieren. Es gibt immer mehr Kunden, die das Stück so wollen, wie es ist. Außerdem gebe ich ihn sowieso nicht her.»
    Â«Jetzt sag schon, wo hast du ihn gefunden?»
    Â«In der Wohnung eines Amerikaners. Der Neffe wollte das Zeug loswerden. Der hat keine Ahnung, was da alles rumsteht», sagte Vittorio. Er drehte sich von mir weg, ich mich zu ihm hin. Ich faßte nach seinen Hoden und begann sie zu kraulen, aber er rührte sich nicht. «Schlaf jetzt», sagte er leise.
    In Abständen von wenigen Sekunden heulten zwei Autosirenen auf. Ich zog mich auf meine Bettseite zurück, lag am Rand und wartete, bis ich gleichmäßige Atemzüge hörte. Dann stand ich auf, verließ auf Zehenspitzen das Schlafzimmer.

VI
    Es war das erste Mal, daß Irma nach draußen ging. Als sie die Praterstraße überquerte, begegnete sie zwei chassidischen Familien. Am Freitag versammelten sich die Moslems vor dem Eingang zur Czerninpassage, über der sich die Al-Hidaya Moschee befand, am Sabbat waren die Juden unterwegs in die Tempelgasse. Irmas Wohnung befand sich auf halber Strecke zwischen dem jüdischen und dem islamischen Gotteshaus; vom Hinterhof aus konnte sie die Spitze des schlanken, achteckigen Fassadenturms der Johannes-von-Nepomuk-Kirche sehen, ein historisierender Bau, den sie in den sieben Jahren, die sie nun schon in diesem Bezirk lebte, noch nie betreten hatte. Die Kirche, deren Schutzpatron das Hochwasser zurückhalten sollte, war in den vierziger Jahren des neunzehnten Jahrhunderts erbaut worden, zu einer Zeit, als die Leopoldstadt noch Überschwemmungsgebiet gewesen war. Während der letzten großen Überflutung, vor der endgültigen Donauregulierung, die man erst dreißig Jahre nach dem Kirchenbau in Angriff genommen hatte, waren die Hirsche und Rehe aus dem Prater zum Nordbahnhof geflüchtet.
    Irma liebte Brücken; deshalb hatte sie sich für den zweiten Bezirk entschieden, für die Mazzesinsel, wie die Leopoldstadt von den Wienern einst genannt wurde. Richard wäre es damals lieber gewesen, sie hätte eine Wohnung in seiner Nähe bezogen, damit sie auf den Kater aufpassen konnte, wenn er verreiste. Das besorgte nun Davide.
    Inzwischen war Irma aber überzeugte Leopoldstädterin geworden, so wie Rino sich damals, als sie noch zusammen gewesen waren, unter keinen Umständen aus San Lorenzofortbewegt hätte oder ihre Freunde vom Prenzlauer Berg niemals nach Charlottenburg oder Kreuzberg ziehen würden.
    Auf dem Weg zum Karmelitermarkt blieb Irma mehrmals stehen, um tief Atem zu holen. Obwohl sie jede Straßenecke, jedes Haus zu kennen glaubte, war sie überrascht, was sie entdeckte. Es kam ihr vor, als hätte jemand während ihrer zweiwöchigen Abwesenheit das eine oder andere Haus neu zusammengesetzt. Da waren plötzlich Giebelgauben, dort hatte man das Satteldach mit Eternitplatten versehen. Einige Fenster wirkten wie frisch gestrichen, oder man hatte die alten Holzrahmen durch Kunststoffrahmen ersetzt. Wieder mußte Irma an ihre Kusine denken, die von den Transplantierten als Legomenschen gesprochen hatte. Sie erschrak, als sie darüber nachdachte, warum sich ihr Blick nach der Operation verändert haben mochte, hatte das Gefühl, als schauten noch ein Paar andere Augen aus ihr heraus, die nicht die eigenen waren. Legoaugen, hörte sich Irma sagen. Als sie nach dem Diktaphon in ihrer Tasche tastete, fand sie es nicht. Der menschliche Körper sei kein Rechtsobjekt, hatte Greta gesagt, sondern Bestandteil der Persönlichkeit des Menschen. Also sei ein Toter auch keine herrenlose Sache.
    Irma trat kraftvoll auf, sie beschleunigte ihre Schritte; in der Ferne waren die Marktstände zu sehen. Was für ein schöner Tag, dachte sie. Was für eine laue Luft.
    Sie setzte sich vor dem
Madiani
in den Halbschatten, blätterte in einer Kunstzeitschrift, die auf ihrem Stuhl gelegen war. Es würde auf den Inhalt, nicht auf die Dauer des Lebens ankommen, stand da unter dem Photo eines Galeristen. Er trug einen weißen Anzug, saß am Rande eines Swimmingpools, dahinter war ein Garten mit Skulpturen zu sehen, die aussahen, als hätte jemand mit ein paar Pinselstrichen Vasen oder Flaschenin die Landschaft gezeichnet. Die Objekte aus Federstahl waren mit Luft gefüllt.
    Daß es einzig auf den Inhalt ankäme, dachte Irma, das vermochte nur einer zu sagen, dessen Lebensdauer von keiner

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