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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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schien es mir, als vernähme ich einen leisen Pfiff.
    Rossi schlief auf dem Rücken; ich schob sein Unterhemd vorsichtig nach oben, nahm den vollen Beutel ab. Während ich die Stuhlreste am künstlichen Ausgang mit WC-Papier entfernte und die Haut um die Öffnung mit Wasser reinigte, waren meine Gedanken bei Rino. Ich hatte soeben den neuen Stomabeutel angelegt und mit dem Daumen angestrichen, als Rino den Kopf zur Tür hereinsteckte. «Der Arzt möchte sich verabschieden», sagte Rino leise. Es war schwül im Zimmer; gegenüber schlief Mancini, ich hörte ihn schnarchen. Rossi schlug die Augen auf, schloß sie aber wieder, nachdem ich ihm mit meinem Unterarm über die Stirn gestrichen hatte; meine Hände steckten noch in den Schutzhandschuhen.
    Vorsichtig zog ich die Tür hinter mir zu, verschwand im Nebenraum, um die Abfälle zu entsorgen, wusch mir zwischen abgestellten Bettgittern und fahrbaren Wäsche- und Müllcontainern die Hände. Das kühlende Wasser plätscherte über meine Arme in die Metallwanne; ich mußte mich zwingen, den Hahn abzudrehen. Als ich nach der Armatur faßte, schloßsich eine männliche Hand um mein Handgelenk. Rino war unbemerkt eingetreten und hielt mich fest. Ich spürte seinen harten Daumen an meinem Puls. Er stand dicht hinter mir, drückte mich gegen die Wanne. Mir fiel auf, daß die Behaarung seines Armes schwarz war. Ich dachte wieder an Vittorio, an den eigenartigen Geruch, daran, daß er mich in Unruhe versetzte. Erst als ich Rinos nassen Mund am Nacken spürte, versuchte ich mich zu befreien.
    Â«Sind Sie verrückt?»
    Er ließ von mir ab, ging zur Tür, wartete, bis ich den Wasserhahn geschlossen und meine Arme abgetrocknet hatte.
    Â«Verschwinden Sie», sagte ich.
    Rino stand mitten auf dem Gang, die Beine gegrätscht, die Arme seitlich ausgestreckt. Er sah aus wie ein Hampelmann, der seinen Sprung unterbrochen hatte. «Ich lasse Sie erst durch, wenn Sie mir Ihren Namen verraten haben.»
    Sein T-Shirt ist etwas aus der Form, dachte ich, zu oft gewaschen. Vittorio würde es nicht mehr tragen, jedenfalls nicht, um damit aus dem Haus zu gehen. Er mochte das Kleidungsstück nicht besonders, weil es ursprünglich das Trainings-Shirt der US-Truppen gewesen war und erst seit den fünfziger Jahren zu dem wurde, was es heute ist: ein billiges Oberhemd, dem man die Herkunft anmerkte.
    Ich musterte Rinos Beine, überlegte, wie ich mich verhalten sollte.
    In diesem Augenblick klingelte es.
    Â«Seien Sie nicht kindisch», sagte ich.
    Rino ließ die Arme sinken, zog eine Visitenkarte aus der Gesäßtasche.
    Â«Für alle Fälle», sagte er, «und für manches mehr.»

VIII
    Irma blieb vor einem Secondhandladen stehen und betrachtete die Auslage. Richard wollte seinen Kaffee, war ungeduldig. «Was ist? Schaust du, ob du deine Kleider wiederfindest, die du in den Container geworfen hast?» Er wartete nicht, ging voraus, während Irma zwei Frauen beobachtete, die Kopftücher trugen. Sie suchten gleich hinter dem Eingang nach einer passenden Bluse.
    Vor wenigen Wochen hatte Irma angefangen, sich nach gebrauchter Kleidung umzusehen. Sie kaufte neuerdings in Vorstadtläden, in Magazinen karitativer Organisationen; dieses Geschäft betrat sie nicht, weil sie nicht wollte, daß Richard ihr dabei zusah. Er hätte kein Verständnis dafür gehabt, daß sie jetzt immer häufiger Abgelegtes, Überflüssiges, Vergessenes trug. Der Gedanke, möglicherweise in der Hose oder in der Jacke einer Toten herumzulaufen, beruhigte sie.
    Vor dem SPAR spielte ein Mann Ziehharmonika; er hockte häufig auf seinem Klappstuhl neben dem Eingang, hoffte auf Pfandmünzen aus den Einkaufswägen. Hinter ihm saßen zwei Frauen auf einer Bank. Die ältere wippte mit den Beinen, die jüngere betrachtete reglos ihren Rock, dessen Muster Irma an ein anderes Kleid erinnerte; sie wußte aber nicht, an welches. Ihr fielen die vorgezeichneten Papierpuppen aus der Kindheit ein, die sie mit einer stumpfen Schere aus dem Karton geschnitten hatte, die Zungenspitze zwischen den Lippen. Doch die verschiedenen Kleidungsstücke, die man den Pappfiguren umhängen konnte, blieben ebensowenig auf den Körpern wie die Hüte auf den Köpfen; zu fragil waren die kleinen Luxusgestalten gewesen. Ihre Beine waren eingeknickt, die dünnenPapierblätter gerissen. Oder es gab Tränen,

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