Über Nacht - Roman
weil die Schere nicht auf der vorgegebenen Linie geblieben war, den Rumpf oder das Gesicht beschädigt hatte.
«Vielleicht bin ich hier drinnen ein Mann», sagte Irma zu Richard. Sie waren in der Konditorei Aida angekommen, hatten zwei Melange und einen Apfelstrudel bestellt. Irma tätschelte ihren Unterbauch.
«Das wird nicht reichen», sagte Richard. Er lachte, blickte auf die StraÃe hinaus, zu den Taxis. Die Fahrer lieÃen den Motor laufen, obwohl sie keinen Fahrgast hatten.
Richard hielt die Arme hinter dem Kopf verschränkt. Wie so oft schwieg er, wartete darauf, daà Irma etwas erzählte. Früher hatte sie ihm noch Fragen gestellt, hatte ihm zu verstehen gegeben, daà sie seine Liebe zu Männern nicht störte, daà sie nicht zu jenen Menschen gehörte, die in jeder Blutkonserve, die von einem Homosexuellen stammte, das HIV-Virus vermuteten; Irma hatte sogar einmal einen Leserbrief verfaÃt, als man ernsthaft erwog, Homosexuellen das Blutspenden zu verbieten, aber nachdem Richard auf Irmas Empörung nicht reagiert hatte, war sie zurückhaltender geworden. Jetzt hätte sie ihn gerne gefragt, wo er in der Nacht, als man sie aus dem Krankenhaus angerufen hatte, gewesen sei, mit wem er sich getroffen habe. Vielleicht liebt er Transvestiten, verbringt seine Nächte in Darkrooms, geht mit Unbekannten in Parks â Irma sah Richard von der Seite an, seine leicht gebogene Nase, die ausgezupften Augenbrauen, gefärbten Wimpern. Sie stellte sich eine x-beliebige Ehefrau vor, die nichts von den Seitensprüngen ihres Mannes mit Richard mitkriegt, dachte an die Hilflosigkeit und Ohnmacht dieser Frau, wenn sie durch Zufall oder nach monatelangen Zweifeln und Nachforschungen die Wahrheit erfährt, an den Freundeskreis des langjährigen Paares, der sich nach der Trennung lieber mit dem Männerpaar trifft als mit der Frau, weil der geoutete Freund exotischer undinteressanter ist und man in seiner Nähe Toleranz demonstrieren kann.
Die Leute in der Konditorei lasen in ihren Zeitungen, telephonierten, kaum jemand aà Kuchen. Irma fand, sie ähnelten einander wie die Figuren in Samochwalows Kinderbuch
Thomas, wechsel dich
, in dem durch einfaches Vertauschen von Gesichtshälften vorgeführt wird, daà alle Menschen gleich sind, WeiÃe wie Schwarze, Junge wie Alte, Frauen wie Männer. Selbst die Gesichter der zwei Serviererinnen erschienen Irma wie zufällig für diesen Tag gewählt.
«Gestern hat meine Kollegin Handschellen durchgehen lassen, schon gabâs eine Rüge von oben», sagte Richard. «Natürlich hat sie die Handschellen im Handgepäck gesehen. Die waren völlig harmlos.»
«Man weià ja nicht, was während des Fluges damit passiert», sagte Irma.
«Aber ich bitte dich, die waren mit einem leopardenfellartigen Stoff überzogen. Billigstes Spielzeug. Die klicken schon auf, bevor du den Schlüssel reintust. Willst du?» fragte Richard und deutete auf den Strudel.
«Diese Sexartikel gibtâs am Flughafen zu kaufen. Wahrscheinlich hat sich die Arme nicht schon wieder eine BlöÃe geben wollen, nach der Geschichte mit der Vakuumpumpe.» Richard schob den Strudel in die Mitte des Tisches. Er sah müde aus, hatte wohl eine Nachtdienstschicht hinter sich.
«Ich mag keine Ãpfel mehr», sagte Irma.
Richard blickte sie kurz an, dann war er wieder bei den Taxis. Inzwischen war ein weiteres dazugekommen. Der Fahrer stellte den Motor ab, stieg aus, um eine Zigarette zu rauchen.
«Ich bin scharf auf Essiggurken», fuhr Irma fort.
Richard trank den Kaffee in einem Zug aus, winkte die Kellnerin herbei, zahlte. Er betrachtete Irma.
«Ich bin nicht schwanger.»
«Das will ich hoffen,» sagte Richard, «wir sehen uns morgen. Paà auf dich auf.»
Wieder hatte Irma Florian zu spät in den Kindergarten gebracht; so schaffte sie es auch nicht mehr auf die Bank und nicht zum Hausarzt; sie radelte sofort ins Café Prückel, um Herrn Zeder zu treffen, trat in die Pedale, bis ihr die Luft wegblieb. Auf der Aspernbrücke verfing sich die Schlaufe ihrer Tasche im Hinterrad; Irma konnte rechtzeitig abbremsen und den Sturz verhindern. Auf der Höhe der Postsparkasse klingelte das Handy, aber sie war schon so spät dran, daà sie jetzt unmöglich stehenbleiben konnte, um in ihrer Tasche nach dem Telephon zu suchen. Früher hatte sie in einer solchen Situation immer
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