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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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angehalten, mit Herzklopfen, Atemnot. Und jedesmal war sie enttäuscht gewesen, daß sie nur von Mutter, Richard oder sonstwem angerufen worden war und nicht vom Krankenhaus.
    Alois Zeder saß neben der Tortenvitrine. Er trug ein kariertes Hemd, hatte sein grünes Brillenetui neben den Zuckerstreuer gelegt; daran sollte Irma ihn erkennen. Als er sich erhob, um Irma die Hand zu geben, stieß er das Wasserglas um. Er entschuldigte sich mehrmals. Da keine Serviette greifbar war, strich er das Wasser in langsamen Handbewegungen zur Mitte des Tisches hin, bis der Ober mit dem Lappen kam.
    Â«Ich bin immer schon der Tolpatsch der Familie gewesen», sagte er, «meine Frau hat irgendwann aufgehört, Tischdecken aufzulegen.» Zeder bot Irma den Platz auf der Bank an, er setzte sich erst, nachdem sich Irma auf dem Sessel niedergelassen und das Diktaphon eingeschaltet hatte. «Meine Frau hat nie verstehen können, wie man so schusselig und gleichzeitig Schriftsetzer sein kann.» Er lächelte. In seinem faltigen Gesicht war ein sinnlicher Mund, der aussah, als hätte er vergessen mitzualtern.
    Â«Wahrscheinlich war nach einer Tagesschicht als Setzer die Konzentration einfach dahin», sagte Irma. Aus ihren Recherchen wußte sie, daß in den klassischen Zeiten des Bleisatzes einschließlich Korrektur etwa fünfzehnhundert Zeichen pro Stunde gesetzt und sechstausend abgelegt worden waren. Zeder bestätigte diese Zahlen, meinte aber, daß er in den letzten Jahren vor seiner Pensionierung hauptsächlich Traueranzeigen und Visitenkarten im Handsatz hergestellt habe. «Nichts als Gelegenheitsdrucksachen», sagte er, «mehr war nicht mehr drin, leider.»
    Zeder hatte die kleine Druckerei von seinem Vater übernommen; schon der Urgroßvater war gelernter Buchbinder gewesen; er hatte zerfledderte Gebetsbücher und Bibeln neu gebunden. «Die Kinder haben, Gott sei Dank, studiert; meine Tochter Biologie, mein Sohn Germanistik. Der Kleinkram in der Druckerei ist ja immer weniger geworden, da hätte keiner mehr davon leben können.» Aus einer kleinen Werkstatt im ersten Bezirk hätte man noch etwas machen können, aber überall sonst fehle die finanzkräftige Laufkundschaft. «Man müßte sich auf alte Stadtstiche konzentrieren, auf Exlibris, Visitenkarten – schauen Sie sich mal die Minidruckerei von Gianni Basso in Venedig an, der verdient sehr gut, hat Kunden aus der ganzen Welt, Touristen, aber was für Touristen, Nobelpreisträger. Von den Venezianern könnte der nicht leben. Joseph Brodsky hat sein Exlibris bei ihm drucken lassen. Kennen Sie Brodsky?»
    Irma nickte.
    Â«Angeblich hat er das Motiv selbst gezeichnet, eine liegende Katze, die aus einem Buch liest – unter uns gesagt, ein großer Zeichner war der Brodsky nicht. Basso mußte mit der Skizze eigens nach Treviso fahren, weil er selbst keine Clichés herstellt – es gibt übrigens nur noch wenige, die das machen.» Er nahm einen Schluck von seinem kleinen Braunen, trank Wasser nach. «Ich war mit meinem Sohn da, nachdem meine Fraugestorben war – letztes Jahr», sagte Zeder. «Venedig – eigentlich sollte es ein Geschenk für Emmy sein, aber dann – drei Wochen vor ihrem Achtzigsten –» Zeder schaute zum Fenster, er rieb seinen rechten Zeigefinger an der Tischkante, «Herzinfarkt», sagte er nach einer Weile. «Und Sie, warum waren Sie im Krankenhaus?»
    Als Irma nicht sofort antwortete, entschuldigte sich Zeder für seine Frage.
    Woher weiß er das, dachte Irma, dann fiel es ihr ein: Sie selbst hatte es ihm geschrieben, weil zwischen der ersten und der zweiten E-Mail das Krankenhaus angerufen hatte; mehr als drei Wochen waren vergangen.
    Â«Ich hab’ eine neue Niere bekommen.»
    Â«Wie unser Kreisky damals», sagte Zeder, «ich gratuliere von Herzen.»
    Das Café war mittlerweile ziemlich voll; einmal glaubte Irma, Marianne zu sehen, aber sie hatte sich getäuscht. Die Frau war älter und hatte eine gesunde Gesichtsfarbe. Seit der letzten E-Mail war wieder Funkstille zwischen ihnen. Marianne hatte gratuliert, mehr nicht. Und Irma wußte nicht, wie sie reagieren sollte.
    Sie hatte Mühe, Zeders Ausführungen über Lettern und Typen,
Zwiebelfische
und
Jungfrauen
zu folgen.
    Â«Waren Buchstaben versehentlich in den falschen Setzkasten zurückgelegt worden, gelangte schon mal eine Letter aus einer

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