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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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sie und Kreisky Kaffee getrunken hatten.
    Ob Zeder wohl schlafen konnte, in seinem Alter? Vor ein paar Tagen hatte Irma eine Dokumentation über Achtzig- bis Neunzigjährige gesehen, lauter Selbstversorger, die sich bester Gesundheit erfreuten, jedoch an Schlaflosigkeit litten. Sie hatte überlegt, den Fernseher abzudrehen, weil ihr diese Bedächtigkeit, diese Philosophie des Rückblicks auf die Nerven gegangen war. Das Interview einer Neunzigjährigen, die aussah, als wäre sie Mitte siebzig, hatte Irma dann doch interessiert. Sie könne den Menschengeruch immer weniger ertragen, hatte die zierliche Frau gesagt, und bleibe deswegen fast nur noch zu Hause. Das Problem sei nur, wohin mit der Zeit? In der Jugend habe man das Leben eingesammelt, Textmaterialangehäuft, im Alter arbeite man nur noch am Kommentar; nun sei dieser schon länger als der Text. Der Interviewer war nicht fähig gewesen, auf die Worte der alten Dame einzugehen, er fragte sie zum Schluß, wie sie es geschafft habe, so alt zu werden und gleichzeitig so jung auszusehen. «Ich bin mit dem Schnitter verabredet gewesen», hatte die alte Dame lachend geantwortet, «aber ich habe die Verabredung nicht eingehalten. Jetzt bin ich allein. Meine Freunde sind längst hingegangen und nicht mehr zurückgekommen.»
    Hingehen oder nicht hingehen, als wäre das die Frage, dachte Irma. Sie nahm eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank, trank einen großen Schluck. Die Gesunden können sich nicht vorstellen, daß man in diese Verabredung hineingeboren wird, daß man keine Wahl hat. Eine Weile stand Irma am offenen Fenster. Sie dachte daran, wie schwer es für sie war, ihr bisheriges Leben an das neue Überleben anzupassen. Vielleicht sollte sie sich nicht länger mit dieser unbekannten Vergangenheit beschäftigen, die ständig zu Kollisionen mit der Realität führte. Das Transplantat einer fremden Biographie paßte nicht in den realen Rahmen ihres Lebens, es hatte dessen Chronologie durchbrochen; wie beim Filmen, wo in den seltensten Fällen auf die Zeitenfolge des Drehbuchs Rücksicht genommen wird, weil die Terminpläne der Stars oder gewisse Drehorte dies nicht zulassen, so fühlte sich auch Irma wie aus der Linearität gefallen, als Flickwerk des Schicksals. Statt eines
script supervisors
, der die Szenen kontrolliert und koordiniert, war sie gierig nach Analysen und Befunden, nach einer akribischen Buchführung des Körpers, die Fehler vermeiden half.
    Es wehte ein leichtes Lüftchen vom Prater her. Wie schon als Kind war Irma noch immer ein wenig überrascht, daß sich ihr Wohnbezirk nicht mit ihrem Erwachen in Bewegung gesetzt hatte, daß alles in Stille verharrte. Um diese Zeit konnte mansogar die Blätter der Platanen rauschen hören; tagsüber deckte der Verkehrslärm von der Unteren Donaustraße alles zu. Irma hielt die kalte Flasche mit beiden Händen fest, wischte die Feuchtigkeit der Innenhandflächen ins T-Shirt. Ringsum war es dunkel, nur in einer einzigen Wohnung war das Licht eingeschaltet, dort, wo es noch nie ausgeschaltet gewesen war, seit Irma hier wohnte. Sie hatte über das Internet herausgefunden, daß es sich um keine gewöhnliche Wohnung handelte, sondern um Gebetsräume für orthodoxe Juden. Die Helligkeit, die aus den zwei Fenstern strahlte, fand Irma nachts, wenn sie nicht schlafen konnte, beruhigend, als gewönne sie selbst aus der Frömmigkeit jener Menschen ein wenig Zuversicht.

IX
    Die innere Uhr ließ sich nicht so schnell wieder auf Normalzeit stellen. Viel Kaffee in den frühen Morgenstunden und der dauernde Druck, dem ich ausgesetzt gewesen war, weil ich die Arbeit einer ganzen Abteilung allein zu bewältigen hatte, steigerten die Nervosität. «Geh an die frische Luft», hatte mir Vittorio einmal geraten, als ich nach einem Nachtdienst, aus dem ich übermüdet nach Hause gekommen war, nicht einschlafen konnte. Seither nützte ich die Zeit nach der nächtlichen Arbeit für Spaziergänge, paßte den falsch synchronisierten Körper dem Rhythmus meiner Schritte an, bis ich ruhiger wurde. Anstatt in den Bus zu steigen und gleich nach Hause zu fahren, ging ich einen Teil der Strecke zu Fuß, oder ich stellte, wenn ich mit Vittorios Auto unterwegs war, den Wagen in unserer Straße ab und schlenderte noch eine Weile durch unser Viertel.
    Aus alter Gewohnheit hielt ich beim Gehen

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