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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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ausgefallen.»
    Er brachte Zucker und Milch, blieb hinter mir stehen und massierte meinen Nacken.
    Â«Woher hast du die Tapeten?»
    Â«Der Tapezierer um die Ecke hat sie im Magazin gefunden. Übrigens –», Vittorio stellte sich vor mich hin. «– die Hose ist eindeutig zu kurz, findest du nicht?»
    Ich mußte an Rino denken, an sein ausgewaschenes T-Shirt. «Möglich», sagte ich und schloß wieder die Augen.
    Â«Das Hosenbein müßte mit einem leichten Knick auf dem Schuhspann aufliegen. Ich ärgere mich so.»
    Dem alten Battaglia wäre das nicht passiert, dachte ich bei mir. Wahrscheinlich hatte Vittorio seine Mutter gebeten, die Hosenbeine zu kürzen. Ich hatte mich von Anfang an geweigert, Ausbesserungsarbeiten an seiner Kleidung vorzunehmen; man konnte es ihm nicht recht machen. Mal hatte sich Vittorio über den zu dunklen Farbton eines Fadens beklagt, mal waren die Knöpfe zu fest angenäht gewesen.
    Ein Kunde betrat das Geschäft, wollte wissen, wieviel der Jacobsen-Sessel kostet. Zweitausendvierhundert Euro waren ihm für das Modell aus dem Jahr 1957 zuviel. Er schaute sich eine Weile um, fragte dann nach dem Billy-Wilder-Sessel. Ich hatte das Gefühl, daß er nicht wirklich an dem Möbel interessiert war.
    Â«Modell 670? – Hab’ ich leider nicht», sagte Vittorio.
    Es war wohl eine Testfrage. Da sich Vittorio als kompetenterHändler erwiesen hatte, ließ der Mann nicht mehr von ihm los. Er erzählte von seiner eigenen Sammlung, von einem Stuhl, maßgeschneidert für ihn, der erst erfunden werden müßte. Das rechtwinklige Sitzen sei eine unzumutbare Belastung für die Wirbelsäule. Er sprach von Chorgestühlen, von Kirchen- und Schulbänken, die zu einer Verspannung der Skelettmuskulatur führten und die Bewegung des Zwerchfells behinderten. Die körperlichen Folgen dieser aufoktroyierten Sitzhaltungen seien natürlich intendiert gewesen. «Es ist die Macht, die uns in ein Korsett zwingt, die jede sinnliche Wahrnehmung bewußt einschränkt.»
    Die Dichtung der Caffettiera war nicht mehr intakt; ich hörte das Wasser, das aus der Kanne spritzte, auf der Kochplatte zischen. «Ich geh’ schon», sagte ich zu Vittorio, und zu dem Mann: «Trinken Sie auch eine Tasse?»
    Er winkte ab, wollte nicht gestört werden. Vittorio hing an seinen Lippen, nickte, führte die stählernen Stirnbänder und Brustgurte an, mit denen man vom Tisch aus den Körper auf Distanz gehalten hatte, um den Sitzenden zu einer geraden Haltung zu zwingen. Seine Großmutter habe ihm noch mit einem Besenstiel gezeigt, was richtiges Sitzen sei.
    Â«Wenn man sich hinsetzt, sollte man so bequem sitzen, daß sich die Bewegungsarmut nicht in die Unbeweglichkeit der Gedanken fortsetzt, weil man an Rückenschmerzen leidet», sagte der Kunde. «Früher oder später wissen wir ja nicht mehr, wie wir sitzen sollen, und daher wissen wir auch nicht mehr, was wir denken sollen.»
    Carelli kann weder stehen noch richtig sitzen, aber er weiß sehr genau, was er denken soll, dachte ich bei mir.
    Zwischen seinen Ausführungen fragte der Mann nach dem Preis einzelner Stühle, fand sogar, daß Vittorio für die Bellini-Modelle ruhig etwas mehr verlangen könne, prüfte die braunen Lederbezüge, die sich durch das Reißverschlußsystemwie eine Haut an den Stuhlrahmen schmiegen, und versprach, in den nächsten Tagen Vittorio in seiner Lagerhalle in Testaccio aufzusuchen.
    Â«Ich habe gute Kontakte in Dänemark», hörte ich den Mann sagen, «da gibt’s noch ein paar Entdeckungen. Hier in Rom finden Sie kaum noch einen Kjaerholm oder einen Jacobsen. Der hier», er zeigte wohl auf das Möbel, das ihn von Anfang an interessiert hatte, «ist allerdings ein Juwel. Aber zweitausendvierhundert – tausendfünfhundert?»
    Während die beiden verhandelten, sah ich meine Hände plötzlich auf Vittorios kleinem Schreibtisch. Ich hob ein paar Rechnungen auf, las genau die Visitenkarten, warf einen Blick in ein verdächtiges Kuvert. Auch in dem Regal über dem Spülbecken waren nur Tassen, ein Kilo Zucker und zerfledderte Telephonbücher, die längst durch neue ersetzt gehörten. Der Wecker neben der Thermoskanne warum neunzehn Uhr sieben stehengeblieben.
    Â«Bringst du auch Mineralwasser?» rief Vittorio, als ahnte er, daß ich in seinen Sachen

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