Über Nacht - Roman
ihr einen Phototermin in der Werkstatt angeboten. «Nützen Sie das schöne Wetter», waren seine Worte gewesen, «auÃerdem kann mir mein Sohn heute helfen. Ich schaffâ es nicht allein, die alte Presse rauszuziehen.»
Der Eigengeruch der U-Bahn aus elektrischen Anlagen, Gummi und den Ausdünstungen der Leute machte Irma zu schaffen. Manchmal kam durch die gelegentlichen Funkenüberschläge an der Oberleitung auch noch der Geruch nach Verbranntem dazu. Die schwarzen Fahnen an den Wänden der Tunnel zeugten davon. Irma war froh, als sie wieder oberhalb der Erde angekommen war. Der Herbst hatte sich noch nicht angekündigt, nur die kranken Kastanienbäume waren ihrer Zeit voraus. Irritiert von den Lauten eines Singvogels, hob Irma den Kopf. Waren es Handytöne? Oder imitierte ein Vogel die Klingeltöne eines Mobiltelephons, eine Fähigkeit, die man bei Dohlen, Staren und Eichelhähern in freier Wildbahn bereits nachgewiesen hatte?
Da war nichts, kein Singvogel zu entdecken, auch kein Mensch, der nach seinem Handy gegriffen hätte. Auf der anderenStraÃenseite warteten mehrere Menschen auf den Bus, sahen einem Hund zu, der ein Bein hob und gegen ein geparktes Auto pinkelte. Erst beim zweiten Mal Hinschauen entdeckte Irma unter den Wartenden Marianne. Sie trug eine Sonnenbrille, die das halbe Gesicht verdeckte. Wahrscheinlich sind ihre Lider geschwollen, dachte Irma. Ihr fiel in diesem Augenblick die Hundegeschichte ein, die ihr Marianne einmal erzählt hatte. Ein etwas korpulenter Freund hatte sich bei einem Fest nach dem Tanzen erschöpft auf das Sofa der Gastgeberin fallenlassen und nicht bemerkt, daà er sich dabei auf deren Chihuahua gesetzt hatte. Das Tier war auf der Stelle tot gewesen und muÃte heimlich entsorgt werden. Wenn Marianne guter Laune gewesen war, hatte sie die halbe Dialysestation mit ihren skurrilen Geschichten unterhalten; manche davon waren so absurd gewesen, daà Irma an deren Wahrheitsgehalt zweifelte. Wie soll ich ihr gegenübertreten, dachte Irma jetzt. Sie wünschte den Bus herbei, damit er sich zwischen sie beide schöbe und sie unentdeckt bliebe. Ich bin schon so spät dran; ich muà zu Zeder, sagte sie sich. Aber Marianne hatte Irma schon gesehen, sie winkte, setzte einen Fuà auf die StraÃe, um Irma zu signalisieren, daà sie gleich rüberkommen werde.
Sie umarmten sich. «Wie gehtâs deinem Shunt», fragte Irma, und Marianne bemerkte beinahe gleichzeitig: «Gut siehst du aus.» Sie standen neben dem Eingang zur U-Bahn, behinderten die Passanten. Marianne schob Irma zur Seite. «Es ist also alles gut verlaufen», sagte sie, «toll. Keine AbstoÃungsreaktionen. Und wie verträgst du die Medikamente?»
«Bis jetzt ganz gut, auÃer daà mein Gesicht aussieht, als hätte ich zehn Kilo Ãbergewicht. Es ist mehr â ich â», Irma sah zu Boden, «ich haltâ es nicht aus, nicht zu wissen, wer der Tote war.»
«Ach, Irma.» Marianne strich ein paarmal über Irmas Arm. «Vielleicht war es eine Tote? Denk dir: Es ist nur ein StückFleisch, das man vor den Würmern gerettet hat oder vor dem Feuer, wie auch immer. Mach dich nicht verrückt. Du hast doch nicht etwa deine Kusine getroffen?»
«Nein», Irma sah auf die Uhr. «Greta rührt sich bestimmt nicht mehr.» Daà das Organ auch von einer Frau sein könnte, daran hatte Irma noch gar nicht gedacht. Das beruhigte sie.
«Die mit ihrem gottgegebenen Leben! Die will ja keine Verantwortung für sich übernehmen», sagte Marianne. «Es ist schon sonderbar, mit welcher Vehemenz Leute wie deine gesunde Greta glauben, bestimmen zu können, welche menschlichen Mängel behoben werden dürfen und welche nicht.» Sie schüttelte den Kopf. «Ich habâ übrigens wieder in einem dieser Bücher gelesen, die uns weismachen wollen, daà wir uns in Ruhe auf den eigenen Tod vorbereiten sollen, statt mit dem Schicksal zu hadern und voll innerer Spannung auf ein Organ zu warten.» Marianne lachte. Die Worte
voll innerer Spannung
hatte sie so laut deklamiert, daà sich eine Frau umdrehte.
Ich muà Zeder anrufen, sagte sich Irma.
«Und dann kommt mir dieser Arsch auch noch mit einem Holocaust-Vergleich â es ist nicht zu glauben», sagte Marianne, «wir würden diesen Blick haben, der Menschen in Dinge verwandelt, diesen Doktor-Pannwitz-Blick. Der Autor â ich
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