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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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er noch einmal, «du bist mein ein und alles.» Immer wieder strich er über meine Wange, meine Schulter. «Ich ruf ’ dir jetzt ein Taxi.»
    Als ich aufwachte, waren die Vorhänge zugezogen, meine Ohren mit Wachs verschlossen. Ich schaute zum Fenster, um mich zu orientieren. Der Farbe des Vorhangstoffes nach zu schließen, war es etwa achtzehn Uhr. Die linke Schulter brannte; möglicherweise war ich in unbequemer Haltung eingeschlafen, oder ich hatte Carelli ungeschickt in Sitzposition gebracht, mich verhoben. Immer öfter blieben die Kraftanstrengungen als wiederkehrender Schmerz im Körper. Ich versuchte mich zu erinnern, bei welchen Handreichungen ich den Rücken gespürt hatte, aber ich vermochte die Nachtbilder nicht abzurufen. Ich griff mit der Hand zwischen die Beine, beschnupperte meine Finger, roch Vittorio. Er war in mich zurückgekehrt, nach Monaten das erste Mal. Was hatte ihn erregt? Mein überfallsartiger Besuch? Meine Abgeschlagenheit?
    Auf dem Fenstersims landete ein Vogel. Ich sah seinen Schatten auf dem Vorhangstoff, den gefächerten Schwanz, mit dem er abbremste.
    Es war bewölkt; das Licht kam und ging. Lange Zeit blieb ich ruhig liegen, zerknüllte nur das Kissen und stopfte es unter den Nacken, damit ich den Vorhangstoff besser im Auge hatte, die Umrisse des Vogels. Für eine Dohle war das Tier zu dick, außerdem verirrte sich selten eine in diese Wohngegend. Dohlen nisteten vor allem im Kolosseum, waren aber in den letzten Jahren auch dort mehr und mehr von den Krähen vertrieben worden.
    Ich hatte nicht die Kraft aufzustehen, schaute weiter zum Fenster. Die Luft roch verbraucht, Schlafluft am hellichten Tage.
Aber sie muß es doch merken. So dumm kann man gar nicht sein.
Der Satz der Frau in der Bar schaltete sich wieder ein, wie der Radiowecker. Vielleicht hatte Vittorio in der Nacht bei einer fremden Frau gelegen und mich ein paar Stunden später nur geliebt, um sein schlechtes Gewissen wegzuficken; vielleicht war er in Gedanken bei der anderen gewesen, während ichmich über den Schreibtisch gebeugt hatte. Ich kaute am Nagelbett, riß die Haut mit den Zähnen ab, bis ich am Daumen blutete. Mir fielen die brüchigen, spröden Löffelnägel der Alten ein, die Eindellungen, die vergrößerten, nach außen gewölbten Zehennägel Carellis, die von Teerablagerungen verfärbten Fingerspitzen Mancinis. Manche Nägel waren derart verbogen, daß sie aussahen wie Hornschnäbel oder Krallen.
    Ich hob meine Tasche vom Boden auf, vergewisserte mich des Schlüssels, den ich aus Vittorios Schreibtisch entwendet hatte. Um ihn nicht zu verlieren, legte ich ihn zu den Münzen ins Portemonnaie.
    Als ich wieder einschlief, hörte ich die Stimme von Vittorios Kundin. Sie tuschelte mit ihrer Freundin, tippte dem Feuerzeugverkäufer auf die Schulter und zeigte mit dem Finger auf mich. Die kupferfarbenen Handgranaten lagen vor ihren Füßen und sahen aus wie Vogeleier.

X
    Irma hantierte in der Küche und zuckte zusammen, als es klingelte, aber es klingelte weder an der Tür noch in ihrer Tasche. Obwohl sich die Klingeltöne im Radio anders anhörten, bezog Irma jedes Läuten zuerst einmal auf sich. Sie brauchte ein paar Sekunden, um zu begreifen, daß sie bereits angerufen worden war und seit eineinhalb Monaten mit einer Spenderniere lebte. «Unsereins kann nie vergessen», hatte Marianne einmal gesagt, «man müßte den Gedanken ans Vergessen vergessen können, und das gelingt uns nicht. Wie soll man dann jemals etwas aus dem Gedächtnis verlieren, wenn die Narben der Finderlohn sind?»
    Diese Klingeltöne sind akustische Narben, dachte Irma, siebrechen mit jedem Anruf wieder auf. Wie schön wäre es, einfach nur zu telephonieren, einem Liebhaber zu antworten, ohne Angst, ohne Erinnerung. In den alten Filmen, fiel Irma ein, waren es stets wunderschöne blonde Frauen, die in den Hörer lauschten. Sie ließen die hochgelagerten Beine sprechen, verbogen ihren Körper zu einem Fragezeichen, indem sie die Beine in einem Sessel oder auf einer Couch anwinkelten. In Spionagefilmen und Thrillern hielten sie sich mit beiden Händen am Telephon fest, während die entsprechenden Männer hinter breiten Schreibtischen saßen oder in ihren Wohnzimmern auf und ab gingen.
    Sorgfältig trocknete Irma sich die Hände ab, legte das Geschirrtuch beiseite. Sie mußte los. Zeder hatte

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