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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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hab’ den Namen vergessen – schämt sich auch nicht, Levi zu zitieren, Primo Levi! Aber Levi hatte die Lagerinsassen gemeint, lebende Menschen, die dieser Nazichemiker Pannwitz als verwertbare Objekte mißbrauchte, während doch die Organspender tot sind, verdammt noch mal, mausetot.»
    Marianne sammelte alles, was an
gegnerischem Material
– wie sie es nannte – auf den Markt kam. Irma genügte Greta. Einmal hatte Marianne von einem Buch erzählt, in dem den Transplantationsmedizinern vorgeworfen wurde, daß sie zusätzlich die Lebenserwartung der Menschen steigern und damit die Probleme in der Altersversorgung verstärken würden.
    Â«Dieser Irre fragt doch tatsächlich, warum wir dem Tod noch einen Sinn abtrotzen wollen.» Marianne nahm kurz ihre Brille ab. «Entschuldige, aber ich bin erst vor zwei Tagen auf dieses Buch gestoßen –»
    Â«Ich muß leider los. Sehen wir uns demnächst?» Irma bedauerte, das Gespräch abbrechen zu müssen.
    Â«Aber ja», sagte Marianne, «sag nicht, daß du schon wieder arbeitest.»
    Irma nickte.
    Â«Du bist unverbesserlich. Und Florian?»
    Â«Alles okay», sagte Irma.
    Â«Ich ruf’ dich an.»
    Irma überquerte den Gürtel, bog in die nächste Straße ein. Hatte sie sich alles nur eingebildet? Warum hatte sich Marianne dann nicht früher gemeldet? War für sie wirklich alles so normal, so selbstverständlich?
Dem Tod noch einen Sinn abtrotzen.
Irma fiel das Wort
Sinnverlagerung
ein. Sie nahm sich vor, es nicht zu vergessen. Jetzt hat Sterben wieder Sinn! Jetzt ist Sterben wieder Gewinn! Irma lachte über ihren Einfall. Was für ein Werbespot. Wir füllen die Sinn-Leerstellen, dachte sie. Das durch die Säkularisierung entstandene Loch kriegt endlich eine neue Füllung.
    Nach ein paar hundert Metern stand Irma vor Zeders Haus. Es war ein Bau aus den zwanziger Jahren; Alois Zeder wohnte im ersten Stock, in der Belle Étage, in der die Räume über vier Meter hoch waren. «Schwer zu heizen», hatte er Irma erzählt.
    Das Haustor war offen; auf einem Schild überflog Irma die Öffnungszeiten einer Arztpraxis. Sie hatte vergessen, ob Zeder auf Stiege I oder Stiege II zu Hause war. Als sie nach dem Handy suchte, stand plötzlich eine etwa vierzigjährige stämmige Frau mit Gummihandschuhen vor ihr. «Zum Arzt?»
    Irma vermutete, daß es die Hausmeisterin war, eine vom altenSchlag, die nicht nur putzte, sondern über alles und jeden wachte.
    Â«Ich möchte zu Herrn Zeder.»
    Â«Der ist vor einem halben Jahr ausgezogen», sagte die Frau.
    Â«Ausgezogen? Aber – ich bin mit ihm hier verabredet – der Schriftsetzer, der Herr Zeder –?»
    Â«Ach, den Alten meinen Sie.» Die Frau deutete mit einem Kopfnicken Richtung Treppenhaus, dann bückte sie sich, um einen Zigarettenstummel aufzuheben.
    Â«Mein Vater ist drüben in der Werkstatt», sagte Friedrich Zeder, «aber kommen Sie herein.»
    Die Wohnung war aufgeräumt; im Vorzimmer standen zwei Ikearegale mit Büchern, die meisten davon Billigausgaben der Buchgemeinschaft Donauland. Auf dem Parkett lagen Perserteppichimitationen. Als Irma ihre Sandalen auszog, überflog sie einige Buchtitel. Arthur Koestlers
Sonnenfinsternis
stand neben Manès Sperbers Roman
Wie eine Träne im Ozean
, daneben entdeckte sie mehrere Bücher von Solschenizyn und einen Band mit Druckgraphiken und Zeichnungen von Käthe Kollwitz. In einer Kartonschachtel auf dem Schuhkasten wurde das Altpapier geschichtet. Friedrich Zeder, der in die Küche vorausgegangen war, drehte sich im Türrahmen um. «Das ist doch nicht nötig», sagte er und schaute auf Irmas Füße.
    Er sieht aus wie ein zu klein geratener Ulrich Tukur, dachte Irma, der gleiche Mund, die gleichen Augen.
    Friedrich Zeder starrte noch immer auf Irmas Füße.
    Â«Neununddreißigeinhalb», sagte Irma, «und Sie?»
    Â«Entschuldigung», er drehte sich um, ging zur Spüle, nahm zwei Tassen vom Abtropfständer. Irma erkannte, daß es sich um Lilienthal-Porzellan aus der Augarten-Kollektion handelte. Hier waren die rosa und hellblauen Tassen einfach Geschirr und nicht Handwerksavantgarde dieser neureichen Designkunden,dachte Irma, die glaubten, mit ein paar Dingen aus der guten alten Zeit ein bißchen Dauer erworben zu haben.
    Â«Kaffee?»
    Â«Nein danke. Ein Glas Wasser.» Irma

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