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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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zuziehen wollte, wurde sie kurz von der Schlaufe der Tasche zurückgehalten, die sich an der Klinke eingehakt hatte.
    Die oberen Äste der Bäume bewegten sich ein wenig; Irma sah die Wiesen und Felder im Waldviertel vor sich, sehnte sich nach langen Spaziergängen. Die Menschen, die ihr entgegenkamen, schauten fast alle zu Boden, sie trugen schwer an den Einkaufstaschen, waren übergewichtig, wirkten kraftlos. Die Frau vor ihr hatte blondiertes Haar, keine Zeit oder kein Geld, um es regelmäßig nachzufärben, der Haaransatz war schwarz und fettig.
    Irma dachte daran, wie schön es wäre, jetzt mit Florian zu verreisen, nach Venedig zum Beispiel, wo sie zuletzt vor fünf Jahren gewesen war. Richard hatte sie damals eingeladen, weil sie wieder einmal keinen Job gehabt hatte. Sie waren sogar nach Murano und auf der Rückfahrt zur Friedhofsinsel San Michele gefahren, hatten sich über die vielen kleinen Büsten von Papst Johannes XXIII. gewundert, die auf dem blankgeputztenMarmorplatten neben den Weihwasserbehältern befestigt waren. Auf einem der Gräber hatten sie vergoldete Ballettschuhe und Rosen entdeckt. Beim Blick auf das Todesdatum des Mädchens war Richard stutzig geworden. Es hatte am selben Tag sein Leben verloren wie Onkel Alfred. Irma dachte daran, daß sie von nun an Friedhöfe mit anderen Augen betrachten, immerzu nach den Sterbedaten Ausschau halten würde. Und die Vorstellung, daß sie einmal auf einen Verstorbenen treffen könnte, dessen Lebensende auf ihr Operationsdatum fiele, ließ sie zusammenzucken.
    Dieses Mal suchte Irma nach einem U-Bahn-Waggon mit gekippten Fenstern; von der Zugluft tränten die Augen. Sie schaltete die Kamera ein, betrachtete die Bilder, den alten Zeder vor seiner Presse, im Hintergrund leuchtete das Rot der Langlaufskier Marke Fischer; auf einem anderen Photo fand sie Friedrich neben Alois. Seine Augen waren geschlossen, eine Hand befühlte den Adamsapfel, die andere steckte in der Seitentasche der Hose. Sie zoomte das Gesicht herbei, konnte kaum etwas erkennen. Je länger sie es betrachtete, desto weniger gelang es ihr, sich an Friedrich zu erinnern. Das Gedächtnis, dachte Irma, ist stur, es behält am Ende nur diese wenigen, lächerlichen Aufnahmen. Die jetzt die Tote betrauerten, der sie ihr Weiterleben verdankte, klammerten sich vermutlich an die papierenen und digitalen Andenken, und je mehr sie sich daran festhielten, desto schneller verloren sie den geliebten Menschen, den sie in diesen Bildern wiederzufinden hofften. Irma hätte jetzt viel darum gegeben, mit den Hinterbliebenen einen Blick in die Alben ihrer Spenderin zu werfen. Sie betrachtete die Fahrgäste, den dicken Geschäftsmann, der in seinem Anzug schwitzte, die zwei Punks beim Ausgang, deren T-Shirts zerrissen waren, die ältere Frau, deren Mund aussah wie ein gerupfter Hühnerpopo – sie alle hätten es sein können, und die, mit der es zu Ende gegangen war, würde sich nichtvon denen hier unterscheiden. Irma trug etwas von all diesen Leuten, die sie nichts angingen, mit sich herum. «Ich kann nicht anders», hatte Marianne einmal während der Dialyse erzählt, «als mir in einzelnen Gesichtern irgendwo auf der Straße, in Konzerten, in den Kaffeehäusern mein Weiterleben vorzustellen. Und jedesmal schäme ich mich für meine Hoffnungen, jedesmal denke ich, was für ein furchtbares Glück, wenn es einen von ihnen trifft. Und ich kann gar nichts dafür, sie sterben auch ohne mich.»
    Irma hatte noch eine Stunde Zeit, bevor sie Florian abholen mußte. Sie stieg zwei Stationen früher aus, spazierte durch den Volksgarten, setzte sich auf eine Parkbank in die Sonne. «Jetzt gehen wir nach Hause», sagte eine ältere Frau zu ihrem Hund, «dann mach’ ich uns etwas zu essen. Und wenn du willst, gehen wir dann noch zu Klara.» Der Hund blieb stehen. «Willst du nicht zu Klara?» Er schnupperte an ihren Beinen. «Dann eben nicht.»
    Vom Westen zogen dunkle Wolken auf; Irma hielt die Hände hinter dem Kopf verschränkt. In zwei Tagen mußte sie wieder zur Kontrolle ins Krankenhaus. Davide hatte sich angeboten, Florian in den Kindergarten zu bringen. Am Wochenende würden ihn wieder die Eltern übernehmen. Rino fiel ihr ein, die Nächte in seiner Wohnung, wie oft sie miteinander geschlafen hatten. Nie mehr seit damals war sie so benommen, so ausgelaugt, mit unsicheren Beinen

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