Über Nacht - Roman
in der Küche gestanden und hatte mit einem Mann gefrühstückt.
Mit den beiden Daumen massierte sie jetzt ihren Nacken, spürte die Wärme der Nachmittagssonne auf ihrem Körper.
Friedrich, dachte sie.
Am nächsten Morgen kroch Florian um sechs Uhr zu Irma ins Bett; er knetete ihre Nase, spielte mit ihren Haaren. «Komm, schlaf noch ein biÃchen.» Sie drehte sich auf die andere Seite,stieà gegen
Die Meisterprüfung im Druckgewerbe
. Das Buch fiel zu Boden; Irma hob es auf, blätterte kurz darin, schaute in das Gesicht von Gutenberg.
«Mama, erzählen», sagte Florian.
«Dann hol eines deiner Bücher.»
Er rutschte vom Bett, lachte, als er mit dem Hintern auf das Parkett knallte, tappte raus in sein Zimmer. Eine Weile war es ruhig, vielleicht hatte er seinen roten Bagger entdeckt. Von drauÃen waren Motorengeräusche zu hören, der Boden vibrierte. Um diese Zeit luden die Lastwägen ihre Waren am Hintereingang des nahen Supermarkts ab.
Irma preÃte ihr Gesicht ins Kissen. Sie fühlte sich müde, spürte ein Ziehen im Unterbauch. Hoffentlich hatte sie sich nicht verhoben. Nierenarterie und Vene des Transplantats waren an die entsprechenden eigenen GefäÃe in der Leiste angeschlossen worden; Irma konnte das Organ von auÃen tasten. Die Ãrztin hatte ihr von einem Patienten erzählt, der mehrere Wochen lang unfähig gewesen war, die Stelle zu berühren, ein anderer hatte es nicht geschafft, die groÃen Kapseln gegen die AbstoÃung zu schlucken; er muÃte sie zerkleinern und mit etwas Brei löffelweise einnehmen.
Du mein bestes Stück, dachte Irma.
Florian war mit mehreren Kinderbüchern zurückgekommen und zeigte auf einen einsamen Hund, der auf der Suche nach Freunden war. Er traf auf verschiedene Tiere, verwandelte sich ihnen an. Grunzend, gackernd und bellend kuschelte sich Florian an Irma. Er wollte die immergleiche Stelle erzählt bekommen, liebte die kräftigen Esel, welche schwere Säcke den Berg hinauftrugen. Der Hund hingegen schwitzte, weil er es nicht gewohnt war, so hart zu arbeiten.
Sobald Irma die Augen schloÃ, um ein paar Sekunden für sich zu sein, ein wenig zu dösen, hörte sie ihn schon: «Mama, weitererzählen.»
Ich muà Marianne anrufen, dachte Irma beim Frühstück. Warum hatte sie nach der Operation nur eine E-Mail geschickt und darauf gewartet, daà sie einander zufällig trafen?
Ich habâ einfach kein Glück
, hatte Marianne noch vor Irmas Transplantation geschrieben,
es sterben jeden Tag so viele, warum stirbt keiner für mich?
In derselben E-Mail war sie über ein Buch hergezogen, in dem sich eine Frau über die zerschnittene Leiche ihres Sohnes aufregte. Man habe ihm die Augen herausgenommen.
Wovor fürchtet sie sich denn? Daà ihr Sohn die Würmer nicht sieht, die ihn auffressen? Diese bigotten Gutmenschen glauben, daà Leiden sinnvoll ist und im Jenseits belohnt wird, daà es ein Zeichen für die Unvollkommenheit der sündhaften menschlichen Natur ist.
Wie wohl Friedrich dazu steht, fragte sich Irma. Sie rührte Kakao in Florians Milch. «Mehr, mehr, mehr», rief dieser und bohrte seinen Finger so lange in eine Scheibe Brot, bis er durch das Loch sehen konnte.
Alois Zeder hatte sich als Sozialdemokrat zu erkennen gegeben, der die Nierentransplantation des Altbundeskanzlers Bruno Kreisky gutgeheiÃen hatte.
«Nicht spielen, ià bitte.»
Was geht mich dieser Friedrich an, dachte Irma.
Als sie das Geschirr abräumte und Florian damit beschäftigt war, die Hose, die sie ihm vor zehn Minuten angezogen hatte, wieder auszuziehen, klingelte das Telephon. Mama, Davide, Richard, Marianne, zählte Irma auf, zuletzt fiel ihr auch noch Rino ein, aber um diese Zeit?
Es war Alois Zeder, der sich, noch bevor er den ersten Satz formulierte, entschuldigte. Sie habe ihr kleines Diktaphon in der Werkstatt liegenlassen. Wenn es Irma recht sei, werde er es heute im Café Prückel für sie hinterlegen.
XI
Während ich Lucchi duschte, zogen in meinem Gedächtnis die letzten Tage vorbei; immer wieder hörte ich die Worte der Frau in der Bar, Rinos Hämmern gegen die Glastür.
Lucchi beklagte sich über die Wassertemperatur. Als ich ihm helfen wollte, die Dusche zu verlassen, schüttelte er meine Hand ab. Ich dachte an Vittorio, sah mich mit breiten Beinen am Schreibtisch stehen. Wir hatten nicht mehr darüber
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