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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Von Sonntag zu Sonntag erweiterte ich den Radius, obwohl ich Mutter hatte versprechen müssen, in der Nähe unserer Wohnung zu bleiben. Der auffrisierte Motor, der die gesamte Maschine zum Beben brachte, erregte mich. Auf einer der heimlichen Fahrten in die Innenstadt, kurz vor der Piazza dei Signori, passierte es dann: Ich mußte abrupt bremsen, rutschte auf dem Sattel etwas nach vorne, gerade so weit, daß die nun folgende Beschleunigung zu meinem ersten Orgasmus führte. Von nun an saß ich meistens auf dem vorderen Teil des Sattels, drosselte die Geschwindigkeit, gab wiederGas, bremste, beschleunigte. Ich hörte erst damit auf, als ich einen jungen Mann sagen hörte: «Die kann ja gar nicht fahren.»
    Mancinis Kopf sackte mehr und mehr zwischen die Schulterblätter. Er saß breitbeinig da, las in den Fliesen.
    Ich nahm eine Packung MS aus der Lade und steckte sie ihm zu. Sofort lehnte er sich zurück, nickte, sprachlos. Dann erhob er sich und ging zum Kaffeeautomaten vor, um zu rauchen.
    Ich teilte die Medikamente aus, räumte die Reste des Abendessens weg, lüftete die Zimmer, schüttelte Kissen und Decken zurecht, schenkte Tee ein oder stellte frische Mineralwasserflaschen auf die Nachttische. Es war ein ruhiger Abend.
    Jedesmal, wenn ich am Kaffeeautomaten vorbeikam, winkte Mancini. Ich winkte ebenfalls; wir lachten.
    Vittorio war noch immer nicht zu Hause, oder er ging nicht ans Telephon.
    Ich saß in der Schwesternküche und las in einer Illustrierten. Die Finger brannten, in der Hand pochte es. Ich zählte eine Weile die Herzschläge mit, dann blätterte ich weiter. Zwischen Polstergarnituren und Stehlampen war ein würfelförmiger schwarzer Aschenbecher abgebildet. Er sah aus wie der Melaminkubus mit dem vierfach geknickten Blecheinsatz, der auf unserem Wohnzimmertisch steht. Vittorio besaß das Original aus den fünfziger Jahren. Es war schäbig; der Aluminiumeinsatz hatte von den darauf ausgelöschten Zigaretten jeden Glanz verloren, aber Vittorio würde den Klassiker niemals durch einen neuen
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ersetzen. Er haßte auch Geschenke, die sich nicht mit dem Stil unserer Inneneinrichtung vertrugen. Gesellschaftliche Gegenseitigkeit war nicht mehr möglich. Am liebsten waren ihm Freunde, die mit leeren Händen zu Besuch kamen, die mit einer guten Flasche Wein oder ausgesuchten Süßigkeiten zur Füllung des Magens beitrugen.Alles mußte schön und funktionstüchtig sein, Nippes und Billigkram verschwanden sofort im Mülleimer.
    Mehrmals hatten wir uns wegen der alten Möbel und Designgegenstände schon gestritten. «Ich lasse es nicht zu, daß sich unsere Wohnung auch noch in ein Lager verwandelt.» – «Du wohnst hier», hatte er geantwortet, «und zahlst dafür keine Miete.»
    Wind kam auf; die Oleander vor dem Eingang bogen sich. Ich mußte an unsere letzte Reise denken, an die Wanderungen in den Bergen. Abends waren wir vor der Hütte gesessen, mit dem Rücken zur noch warmen Hausmauer, und hatten den Schwalben zugesehen, ihren schnellen Kreisen; manchmal stießen sie ihre kurzen Schreie aus. Morgens hatte uns ein Specht aus dem Schlaf geklopft, der das Ungeziefer aus den Ritzen und Spalten des Dachbalkens pickte. Vittorio konnte nicht verstehen, daß er das gebeizte Giebelholz dem dichten Wald, der hinter der Hütte begann, vorzog.
    Es sah nach einem Gewitter aus; die Böen schienen sogar die Geschwindigkeit der Autos zu drosseln. Mir fiel ein, daß wir uns auch während der Ferien nur ein einziges Mal geliebt hatten. Erschöpft von den langen Wanderungen, war Vittorio meist nach den ersten Berührungen eingeschlafen.
    Wieviel geheimnisvoller Zauber lag hingegen auf den ersten Jahren, auf Vittorios neuer Wohnung, von der er überzeugt gewesen war, daß sie die richtige für mich wäre.
    Ich schlug die Illustrierte zu, legte mich auf die Eckbank, mit angewinkelten Beinen. Die Geräusche ließen sich schwer unterscheiden: das Rattern des Kühlschranks, das Knattern eines Lieferautos, das Ticken der Uhr, Türenschlagen, Hupen, Stimmen, Schritte über mir. Das ferne Grollen hörte sich an, als verschöbe jemand einen schweren Schrank. Und mittendrin: das Klingeln, einmal, zweimal – vielleicht drei- oder viermal; ich hörte es erst nicht, dann begriff ich: Es war in meinerAbteilung. Ich schlug beim Aufstehen mit dem Knie gegen die Tischkante.
    Vor dem

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