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Über Nacht - Roman

Über Nacht - Roman

Titel: Über Nacht - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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sich nicht zeigen, sich auch nicht mit Hunderten anderen im Gleichschritt bewegen.
    Warum war Rino von einem Tag auf den anderen nicht mehr zu erreichen gewesen? Irma stellte sich die immergleiche Frage; es fielen ihr wieder Einzelheiten ein, wie sie miteinander geschlafen hatten, in der Küche, deren Fenster zum Hinterhof hinausgegangen war, im Vorzimmer zwischen Schirmständer und Mineralwasserkisten, sie hatte sein dichtes, an den Schläfen ergrautes Haar vor Augen, erinnerte sich, daß Rino ihr einmal erklärt hatte, Romulus sei Herrscher über die Stadt geworden, weil er vom Palatin aus doppelt so viele Vögel gesehen und gezählt hatte wie sein Bruder Remus, der auf den Aventin gestiegen war. Tags darauf hatten sie auf dem Weg durch die Stadt die Vögel gezählt; der Sieger, so war es vereinbart gewesen, durfte den Ablauf des Abends und der Nacht bestimmen. Vor einem lärmenden Spatzenschwarm, der aus mehreren Büschen am Straßenrand aufgeflogen war, hatten sie schließlich lachend kapituliert.

XIX
    Am Tiberufer gingen die Lichter an. Der Autobus war von Anfang an überfüllt gewesen. Als ein nach Urin riechender älterer Mann zustieg, verließ ich den Bus und setzte den Weg zu Fuß fort.
    Vittorio war erst gegen drei Uhr früh nach Hause gekommen, betrunken, polternd; Mauro hatte ihn bis zur Wohnungstür begleitet; jedenfalls bildete ich mir ein, in der Nacht seine Stimme gehört zu haben. Als ich am Morgen aufwachte, war Vittorio schon fort. Ich konnte ihn tagsüber nicht erreichen, das Handy war ausgeschaltet, die Nummer im Geschäft besetzt.
    Vor Eile achtete ich nicht auf den Boden unter meinen Füßen; da und dort war das schwarze Lavapflaster aufgebrochen. Vor einer Bar standen mehrere Blumenkübel, die als Aschenbecher benutzt wurden, dazwischen waren Mopeds abgestellt. Ich stolperte, wollte mich noch an der Kante eines Betonkübels abstützen, rutschte aus und griff, nach Halt suchend, an einen noch heißen Auspuff. Die Finger klebten kurz fest. Ein junger Mann eilte zu Hilfe, zog mich hoch. Er lief in die Bar, um kaltes Wasser zu holen. Ich hielt meine Hand über den Blumenkübel, während er den Krug über meinen Fingern leerte. Seine Besorgnis trieb mir die Tränen in die Augen. Hinter meinem Rücken wurde verhandelt; kurze Zeit später kam ein Küchengehilfe aus dem angrenzenden Restaurant und gab mir eine Brandsalbe. Ich lehnte ab; es war mir peinlich, weil ich weinte. Je mehr ich dagegen ankämpfte, desto heftiger schüttelte es mich. Der Küchengehilfe wich mir nicht von der Seite, er faßte mich am Oberarm, drückte ihn. «Signora, Signora», sagte er, ich solle mich kurz hinsetzen, aber ich dachte an Okhi, daß ihre Schicht in diesen Minuten zu Ende ging und ich zu spät kommen würde.
    Ich kramte in meiner Tasche nach dem Portemonnaie, zog einen Fünfeuroschein heraus; der Küchengehilfe machte zwei Schritte zurück, winkte ab, der andere junge Mann schüttelte den Kopf. «Kommt nicht in Frage.» Ich betrat die Bar, legte das Geld auf die Theke. «Betrachten Sie es als Gutschein, trinken Sie ein Glas.»
    Â«Nur mit Ihnen», rief der Küchengehilfe von der Straße herein, «wir warten auf Sie.»
    Okhi stand trippelnd am Eingang. «Du weißt doch, daß ich noch einen anderen Job habe.» Ich zeigte ihr meine Hand; am Ballen löste sich die Haut.
    Â«Tut mir leid», sagte sie, «ich muß los, mein Freund wird sonst sauer.» Okhi sprang die letzten drei Stufen in einem Satz hinunter. «Ruf die Chefin an», schrie sie, als sie bereits die andere Straßenseite erreicht hatte.
    Ich legte eine Kompressionsbinde an und prüfte die Beweglichkeit meiner Fingergelenke, nachdem ich die Hand noch eine Weile unter das fließende Wasser gehalten hatte. Mancini saß auf dem Gang und verfolgte, was in der Schwesternküche vor sich ging. Die Rechte hatte er zur Faust geballt, wahrscheinlich hielt er Zigarettenstummel umklammert, die er auf der Straße aufgesammelt hatte.
    Die alte Garelli, an deren Auspuff ich mir die Finger verbrannt hatte, ging mir nicht aus dem Kopf, sie erinnerte mich an das weiße Moped, das ich einmal besessen hatte, an dieses erste Gefühl von Freiheit, das ich empfunden hatte, als ich damit durch die Siedlung gefahren war. Wenn Wind aufkam, ließ sich die knatternde Maschine sogar um fünf Stundenkilometer beschleunigen.

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