Über Nacht - Roman
einer der Laden lag eine neue Niere.
Gegen Abend öffneten die Geschäfte, die Bäckerei, der Obst- und Gemüseladen â jeder kannte hier jeden, anders im touristischen Zentrum, in dem es nur mehr Weltweitgeschäfte mit Weltweitmarkenwaren zu geben schien. Wind kam auf. Die Drähte über den Tramlinien schwankten; Irma konnte aufatmen. Sie fuhr in die Innenstadt, um Davide zum Essen zu treffen. Wieder zogen schwarze, flatternde Wolken über den Himmel.
Es war noch etwas Zeit, so daà Irma zwei Stationen früher ausstieg, um zu Fuà zur Pizzeria zu gehen. Drei Nonnen mit einem hellblauen Ãberwurf und enganliegenden Hauben winkten nach einem Taxi, sie lachten wie junge Mädchen. An der nächsten Kreuzung wuchsen die abgestellten, mit schweren Ketten versperrten Motorräder und Mopeds in die Mitte der StraÃe hinein; überall waren Pflastersteine herausgebrochen, stellenweise hatte man die Fugen mit Teer gefüllt. Im Café Giolitti trank Irma einen Espresso; auf einer Tafel wurde für einen
caffè marocchino
mit Schlagobers und Kakao geworben.Sie blätterte die SMS durch, antwortete auf Friedrichs Nachrichten:
Melde mich bei Dir, wenn ich zurück bin.
Er aber schrieb nur wenige Sekunden später:
ich zähle die stunden. warum bist du so kühl?
Sie sah sein Gesicht vor sich, die drängenden Blicke, die ein schlechtes Gewissen erzeugten, seine Augen, die immer schon sprachen, bevor er etwas sagte, dieses in Schweigen verpackte Warum-sagst-du-nichts, das jede Vorfreude dämpfte.
Als sie die Pizzeria gefunden hatte, spazierte sie durch die umliegenden Gassen, um sich noch ein wenig die Zeit zu vertreiben. Sie betrat ein kleines Möbelgeschäft, in dem gebrauchte Designerstühle, Sofas und Lampen verkauft wurden. Der Besitzer trug einen grauen Anzug, obwohl es schwül war; er fragte Irma, ob sie etwas Bestimmtes suche. Irma fiel auf, daà die Hosenbeine des Mannes zur Ferse hin schräg nach unten abfielen, sie hatten die perfekte Länge.
Die gebogene Stehlampe, erfuhr Irma, war ein signiertes Exemplar eines gewissen Castiglioni, sie konnte sich ein so teures Objekt nicht leisten. Im Durchgang zum hinteren Raum, der als Büro diente, entdeckte Irma das schwarzgerahmte Photo einer jungen Frau. In manchen Geschäften finden sich Bilder der Gründerväter oder Gründermütter, SchwarzweiÃporträts der Verstorbenen, oft mit Namen versehen; das Photo im Geschäft des Möbelhändlers lieà sich nicht einordnen. War es die Ehefrau? Die Schwester? Lebte sie noch? Am Ende kaufte Irma zwei bunte Schälchen und einen weiÃen, würfelförmigen Aschenbecher. Das Modell, sagte der Ladenbesitzer, stamme aus dem Jahr 1951. Als er ihn einpackte, sah Irma einen zweiten Ehering an seinem kleinen Finger.
Davide war mit seiner Mutter gekommen; er hatte Irma nicht gesagt, daà sie sich in Rom aufhalten würde. Aus früheren Erzählungen wuÃte Irma, daà die Frau groÃen Wert auf Kleidunglegt. Allein Seidenbluse und Täschchen hatten ein Vermögen gekostet. Sie war stark geschminkt, dennoch sah sie nicht vulgär aus. Nach einer überschwenglichen BegrüÃung, in der Davide hinter seiner Mutter die Augen rollte, überreichte diese Irma ein Geschenk.
«Ich freuâ mich ja so», sagte sie.
«Mama, ich bitte dich.» Er winkte den Kellner herbei, bestellte Wein und Mineralwasser, teilte die Speisekarten aus, die am Tischrand lagen.
«Hast du Rinos Telephonnummer», sagte Irma zu Davide gewandt.
«Er ist nicht mehr in Rom, aber es gibt einen Onkel, wir haben die Adresse des Heims, in dem er untergebracht ist.»
«Was soll ich mit seinem Onkel,» sagte Irma. Sie rieb die schweiÃfeuchten Handflächen an ihren Oberschenkeln, lehnte sich zurück. Es fiel ihr schwer, ihre Enttäuschung zu verbergen.
Davides Mutter nützte das eingetretene Schweigen, um von der Familie zu erzählen, von ihrem Ehemann, Davides Vater, der schon zweimal am Knie hatte operiert werden müssen, von ihrer eigenen zweiundneunzigjährigen Mutter, die noch immer im Haus am Stadtrand von Forlà lebte. Sie gab ihren Firmenanteil nicht ab, erschien sogar bei den Sitzungen,
um das Schlimmste abzuwenden.
Davide versuchte seine Meinung zu äuÃern, aber es gelang ihm nicht, seine Sätze zu Ende zu sprechen. Es war eine losgelöste, zerstückelte Sprechweise, die Irma nicht an ihm kannte.
«Sie
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