Über Nacht - Roman
müssen es auspacken», sagte Davides Mutter.
Irma nestelte am Band, konnte aber mit ihren kurzen Fingernägeln den Knopf nicht lösen. Davide half mit einem Messer.
«Das kann ich nicht annehmen.» Es war ein sandfarbenesSeidentuch, ein sorgfältig gearbeitetes Markenprodukt. Irma sah Florian vor sich, wie er sie mit seinen schokoladigen Fingern umarmte, sich an ihrem Hals festhielt.
«Ich bin so froh, daà Davide eine Ersatzfamilie gefunden hat. Er ist unser Sorgenkind, wissen Sie.»
«Ja, Mama, schon gut. Was willst du essen? Habt ihr schon entschieden?» Davide versuchte Irmas Blick einzufangen. Seine Mutter hatte sich wieder Irma zugewandt: Wie alt sie sei. Woher sie stamme. Was sie für eine Ausbildung habe.
Irma versuchte, höflich zu antworten; sie war froh, als der Kellner kam, um die Bestellungen aufzunehmen.
Von Davides Eltern wuÃte Irma wenig; sie erinnerte sich an ein Gespräch, in dem Davide erzählt hatte, daà seine Mutter im Gegensatz zu seinem Vater über seine Homosexualität Bescheid wisse, daà sie sein Anderssein jedoch nicht wahrhaben wolle. Sie wünschte sich Enkelkinder und hoffte, daà Davide es sich doch noch einmal überlegte. «Als wäre das eine Sache des Ãberlegens», hatte Davide damals hinzugefügt. Der GroÃmutter könne man die Wahrheit nicht zumuten. Man habe sie einfach angelogen: Er wäre im Ausland, um Deutsch zu lernen und eigene Berufserfahrungen zu sammeln, später würde er in die Firma einsteigen.
Immerhin ist Davide nie unter Vorspiegelung falscher Tatsachen eine Ehe eingegangen, dachte Irma. Er hat sich keine Alibifrau zugelegt. Die kurze Affäre, die Davide einmal mit einem Verheirateten gehabt hatte, sei ihm eine Lehre gewesen. Dieser Mann habe ihm ständig begreiflich machen wollen, daà er seine Frau gar nicht betrüge, daà er mit Männern lediglich die andere Seite auslebe. «Ich konnte seine Erklärungen, daà er mit seiner Frau die Erfahrung von Weichheit und FlieÃen mache, während im Kontakt zu Männern eben das Harte und Konturierte dominiere, nicht mehr ertragen», war Davides Kommentar gewesen. «Schwulsein ist nicht nur eine Form derSexualität, sondern eine Lebensauffassung. Ich habâ keine Lust, den Nebenmann zu spielen.» Nun war er zwar der erste Mann in Richards Leben, aber nicht der einzige, dachte Irma. Davide tat ihr leid, sie mochte ihn sehr, auch wenn ihr die Begegnung mit seiner Mutter lieber erspart geblieben wäre.
Irma stand auf, entschuldigte sich, ging auf die Toilette. Was wuÃte Davides Mutter? Richards Name war kein einziges Mal gefallen. Aber das bedeutete nichts. Als Richard mit dem Medizinstudenten aus Steyr zusammengewesen war, hatten die Eltern auch kein Wort darüber verloren, obwohl Richard ihn mehrere Male zum Langlaufen ins Waldviertel mitgenommen hatte. Irma wusch sich die Hände, ihr fiel Davides Angebot ein, Florian zu adoptieren und mit ihr zusammenzuziehen. Sie ging noch einmal ins WC, rià Toilettenpapier ab, um sich damit die Hände zu trocknen.
Und was sollte sie mit dem alten Mann im Heim? Wer weiÃ, ob er mit Rino überhaupt Kontakt hatte?
In der Pizzeria roch es nach Rauch, der Ofen schien nicht richtig zu ziehen. Als sie das Lokal durchquerte, muÃte sie an Greta denken, die sich einmal mit einem jungen Kardiologen, in den sie verliebt gewesen war, zum Essen getroffen hatte. Ohne es zu bemerken, war Greta mit einer am Absatz aufgespieÃten gebrauchten Damenbinde von der Toilette an den Tisch zurückgekehrt; erst die Blicke der Gäste in jenem noblen Restaurant hatten sie auf das Malheur aufmerksam gemacht.
Irmas Schuhe glänzten.
Vom Hotelfenster aus sah man auf den Markt; die verschlossenen Stände lagen da wie Schachteln in einer riesigen Lagerhalle. Obwohl zum wiederholten Male das Telephon klingelte, rührte sich Irma nicht von der Stelle. Sie hatte unter einem Vorwand die Pizzeria verlassen, war zu Fuà zum Hotel zurückgegangen. Jetzt versuchte Davide, sie zu erreichen, aber Irmahatte keine Lust, ihm zuzuhören. Sie lag auf dem Bett, die Beine hochgelagert, und sehnte sich nach dem Tiberufer, nach den vielen Türmen und Kuppeln, den Lichtern auf den Brücken. Allein traute sie sich nicht, in der Nacht spazierenzugehen, einzig auf der Via del Corso war sie ein paarmal ohne Begleitung auf und ab gegangen, aber sie mochte die EinkaufsstraÃe nicht, mochte
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